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Verlagsankündigung:
Während vor
allem Psychiater die Schizophrenie als Ergebnis eines organischen, erblich
bedingten Krankheitsprozesses verstehen, sehen Soziologen in ihr das Resultat
von gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen und fordern eine radikal
andere Therapie. Dieser Gegensatz spiegelt die beiden Menschenbilder,
die in unserer Gesellschaft miteinander konkurrieren. Das vorliegende
Buch gibt einen verständlich geschriebenen, kritischen Überblick
über die bio- und soziogenetische Theorie der Schizophrenie und macht
deutlich, welche Rolle die Sozialisation in der Familie bei der Entstehung
oder Vermeidung schizophrener Erkrankungen spielt. (C.H. Beck 1977)
Das Buch der Bonner
Sozialwissenschaftlerin ist nach Auffassung von Fachleuten eine der wichtigsten
Arbeiten zur Schizophrenieforschung. Obwohl bereits 1977 erstmals veröffentlicht,
ist das Buch, nicht nur nach Auffassung der Autorin, weiterhin so aktuell
wie zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung, aktuell deshalb, weil
die deutsche Psychiatrie noch immer am "biogenetischen" Menschenbild
festhält, noch immer nach dem "Krankheitserreger" der Schizophrenie
sucht und weil die große Mehrheit der Psychiater die "soziogenetische"
Theorie der Schizophrenie noch immer entweder ignoriert oder polemisch
kritisiert. Die meinungsbeherrschende Mehrheit der Psychiater versucht,
die therapeutischen Erfolge mit dem soziogenetischen Menschenbild bei
als schizophren etikettierten Menschen als "Zufall" oder "Spontanremission"
abzutun. Das vorliegende Buch gibt einen verständlich geschriebenen
Überblick über die beiden gegensätzlichen Theorien der
Schizophrenie und untersucht die Rolle der Sozialisation in der Familie
bei der Entstehung oder Vermeidung schizophrener Erkrankungen. (Fischer
TB 1986).
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Aus Rezensionen:
"Die Zeit" Mai 1977. Ernst Klee:
Die Schizophrenie der deutschen Schulpsychiatrie nimmt die Bonner Soziologin
Marianne Krüll aufs Korn. Sie diagnostiziert die Diagnosen und Begriffe
der "Biogenetiker", denen sie die "Soziogenetiker"
gegenüberstellt. Das gerät bei Marianne Krüll zu einem
spannenden Entwirrspiel ... Die Schizophrenie ist noch kaum erforscht.
Die Schulpsychiatrie nimmt eine krankhafte Veränderung des Leibes
als Ursache an, einen organischen Prozeß unbekannter Ursache ("biogenetische"
Theorie). Das Dilemma: Körperliche Befunde liegen zur Diagnose nicht
vor, sondern das vom Normalbürger abweichende "Verhalten"
dient zur Diagnose. Oft verhalten sich aber die "Schizophrenen"
ganz "normal". Für den Soziologen ergibt sich mancher Widersinn:
Da wird vom Patienten "Krankheitseinsicht" verlangt. Ist er
einsichtig, ist er krank. Ist er uneinsichtig, ist er erst recht krank,
weil die fehlende Krankheitseinsicht als sicheres Krankheitssymptom gilt.
Marianne Krüll schließt sich als Soziologin den "Soziogenetikern"
an: Schizophrene sehen demnach keinen anderen Ausweg, als Lebenskrisen
und Widersprüche unserer Gesellschaft als Konflikt in die eigene
Person hineinzunehmen. Schizophrene verleugnen demnach die Widersprüche
nicht, verdrängen sie nicht oder projizieren sie auf andere, sondern
erleiden sie in eigener Zerrissenheit. Ein Beispiel: Die "Gesunden"
verdrängen den Tod. Schizophrene sind aber vom Gefühl des Sterbenmüssens
durchdrungen. Die Autorin sieht über das Individuelle hinaus auch
gesellschaftliche Schizophrenien: Man lobt in der Erziehung die Bescheidenheit
als Tugend, verehrt aber reiche und mächtige Persönlichkeiten.
Was ist da normal? Wer ist schizophren? Die Schulpsychiatrie trägt
zur Unheilbarkeit der psychisch Kranken ihren Teil bei: Nach ihrer Theorie
ist Schizophrenie unheilbar. Die Diagnose ist wie ein Fallbeil: Sie erledigt
einen Menschen lebenslänglich. Widersprüche dieser Art, Unerträglichkeiten
der gegenwärtigen Psychiatrie spürt die Autorin auf. Sie spießt
die Anormalität der "Normalen" auf und weist auf die Sensibilität
der "Anormalen" hin. ...
"Frankfurter
Allgemeine Zeitung" Oktober 1977. Sylvia Neuhauser:
Anhand einer genauen Analyse sogenannter schizophrener Symptomatik versucht
die Autorin, Einblick zu gewinnen in die komplexe Gestalt dessen, was
in unserer Gesellschaft als das Normale gilt. Diese bei Anthropologen,
Ethnologen und Psychologen beliebte Methode ... führt zu dem Ergebnis,
daß in unserer Gesellschaft das biogenetische Menschenbild weitgehend
ungebrochene Geltung hat. ... ein Angehöriger unserer Kultur (glaubt),
seine Verhaltensweisen seien in erster Linie bedingt durch sein biologisches
Erbgut. Entsprechend neigt er dazu, die eigene Daseinsgestalt als die
"natürliche", "normale" zu verabsolutieren. ...
Menschen, die nicht in der Lage sind, den Widersprüchlichkeiten des
täglichen Lebens mit den gewöhnlichen Abwehrmechanismen zu begegnen,
... bedrohen ... die mühsam geglättete Oberfläche des "normalen"
Selbstverständnisses ... und werden als "Abweichende" zu
"Abnormen". Bei dieser Dialektik zwischen Normalität und
Anormalität setzt die Autorin mit ihrer Forderung nach einem soziogenetischen
Menschenbild ein. ... Es ist schade, daß dieses ... in seiner Kritik
an der einseitig biogenetisch ausgerichteten Psychiatrie hochinteressante
Buch ... mit seiner rigorosen Ablehnung der biologischen Betrachtungsweise
... so unergiebig wird. Statt einander fruchtbar zu ergänzen, bleiben
am Ende die biologische und die soziologische Betrachtungsweise wieder
einmal als unversöhnliche Gegensätze bestehen.
"Psyche" Bd. 34 1980 Helm Stierlin:
... Marianne Krülls erstes Anliegen - die systematische Darstellung
modernen psychosozialer Schizophrenie-Theorien - füllt eine Lücke
im Lehrangebot für deutschsprachige Studenten der Psychologie und
Psychiatrie. Sie ... arbeitet deren Prinzipien klar heraus und faßt
die bahnbrechenden Einsichten von Bateson, Lidz, Laing, Wynne und anderen
Pionieren der Schizophrenie-Forschung zusammen. Frau Krülls zweite
Hauptthematik - die Gegenüberstellung einer biogenetischen und soziogenetischen
Schizophrenie-Theorie - ergibt sich aus dem Aufbau ihres Buches. Innerhalb
der biogenetischen Theorie sind ... Symptome der Schizophrenie Folge und
Ausdruck einer bio-organischen und insbesondere zentralnervösen Störung.
... Dieses Modell entspricht geläufigen medizinischen Vorstellungen:
Der Psychiater sieht sich als Mediziner, er postuliert eine Hirnpathologie,
forscht nach hereditären Belastungen, behandelt mit Psychopharmaka,
und ist distanzierter, statt teilnehmender Beobachter. ... Der soziogenetisch
orientierte Schizophrenie-Forscher richtet dagegen den Blick ... auf Psycho-Logik
und auf Wechselfälle der Sozialisation, die jeweils zur Verinnerlichung
bestimmter Werte, Rollen und Einstellungen führen. Dieser Blickwinkel
zeigt uns viele ... als schizophren diagnostizierte Menschen als Irrgänger
in einem symbolischen Dschungel, als Opfer von Mystifikationen, die auf
verschiedensten Ebenen - familialen wie sozialen - zur Wirkung kommen.
Biogenetische und soziogenetische Schizophrenie-Theorien erscheinen somit
durch einen Abgrund getrennt ... Aber eine bestimmte Sicht, ein bestimmtes
Konzept macht bestimmte Probleme und Fragen überhaupt erst formulierbar.
Dazu rechnen etwas Fragen zum Wesen der Normalität und der Sozialisation,
die sich nur innerhalb einer soziogenetischen Theorie stellen und beantworten
lassen. Hier - in der Skizzierung eines neuen Verständnisses von
Normalität und Sozialisierung - erscheint mir Frau Krülls Beitrag
am originellsten. ... Marianne Krüll (hat) ein wichtiges, auf dem
deutschen Markt schon lange überfälliges Buch geschrieben, dem
ich weite Verbreitung wünsche.
"Berliner
Ärzteblatt" Juni 1978. C. Ruda:
Die Verfasserin, wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Soziologie,
berichtet über die Schizophrenie vom Standpunkt ihres Faches aus.
Mit anderen Sozioloen kommt auch sie nach einem Studium der einschlägigen
Literatur zu dem Ergebnis, daß die Schizophrenie durch die Widersprüche
unserer Gesellschaft verursacht wird ... Das Buch ist für Soziologen,
Psychologen und Wissenschaftstheoretiker von Bedeutung. ...
"Deutsche
Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft" hrsgg. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften der DDR. September 1978. Klaus Weise:
Aus der Gegenüberstellung des bio- und des soziogenetischen Verständnisses
psychischen Krankseins leitet die Verfn verallgemeinernde Schlußfolgerungen
für das Werden der menschlichen Persönlichkeit ab. ... Es wird
ausführlich begründet, wie eine biogenetische Interpretation
der Persönlichkeitsentwicklung diese ... als unverständlichen,
schicksalhaften Reifungs- und Wachstumsprozeß erscheinen läßt
... Eine biogenetische Betrachtungsweise führt so zur Verdeckung
des Zusammenhangs zwischen den sozialen Widersprüchen der Klassengesellschaft
und der gestörten Entwicklung des Menschen in Form von psychischer
Krankheit, Kriminalität, dissozialem Verhalten etc. ... Im Gegensatz
dazu erscheint in der soziogenetischen Perspektive das Werden der Persönlichkeit
als Folge der ... Erfahrungen, die der Mensch im Verlauf des Sozialisationsprozesses
über sich selbst gewinnt. ... Die Konsequenz hieraus ist, daß
Eltern, Therapeuten, Partner ... psychopathologische Erscheinungsbilder
als Reaktion auf soziale Situationen, als Lernprozesse sehen und damit
natürlich in sehr viel höherem Maße eine Verantwortlichkeit
für den ... psychisch Kranken zu übernehmen geneigt sind. Für
die sozialistische Gesellschaft, in der die volle Entfaltung der menschlichen
Persönlichkeit Ziel aller gesellschaftlichen Prozesse ist, bildet
eine solche Betrachtungsweise den Ausgangspunkt für soziale Therapie,
Psychotherapie, Rehabilitation und Pädagogik. Allerdings ist vor
der Verabsolutierung dieser im Prinzip richtigen Überlegung zu warnen
... Es ist kein Zweifel, und die Entwicklung in den sozialistischen Ländern
beweist das, daß unabhängig vom biogenetischen oder soziogenetischen
Menschenbild sich andere Formen der Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen
und zwischen Ländern entwickeln können, Beziehungen, die getragen
sind von Freundschaft, gegenseitiger Achtung und Solidarität.
"Psychiatrie,
Neurologie und medizinische Psychologie" Dezember 1978. H.F.
Späte:
In engagierter Weise setzt sich die Autorin ... mit dem in den letzten
Jahren vieldiskutierten Thema auseinander und versucht, die Wurzeln der
biogenetischen und soziogenetischen Theorien der Schizophrenien freizulegen.
Mehr denn je gilt heute die Frage nach dem Woher dieser Erkrankungsgruppe
als Gewissensfrage, die Antwort darauf häufig als Glaubensbekenntnis
des Psychiaters. Das didaktisch bestechend aufgebaute Buch führt
den unvoreingenommenen Leser, ohne daß ihm das recht bewußt
wird, in die weit ausgebreiteten Armes eines mit sinnfälligen Beispielen
gestützten soziogenetischen Schizophrenieverständnisses. ...
Trotz der tendenziösen Züge ist das Buch anregend, klug und
durch das z.T. aggressive Engagement farbig und lebendig. Der Psychiater
wird auf jeder Seite mit den schwachen Stellen seiner Wissenschaft konfrontiert
und zum Nachdenken, zur Auseinandersetzung, zur Selbstkritik und zur Neubesinnung
gezwungen. Insbesondere die erfrischende Auseinandersetzung mit der tradierten
psychiatrischen Nosologie und Terminologie, der Hinweis auf die bekannten
Schwierigkeiten in der Abgrenzung von Schizophrenien zu erlebnisreaktiven
Störungen und abnormen Entwicklungen, die Verlegenheit, in die wir
kommen, wenn wir "Normalsein" definieren sollen, geben reichlich
Möglichkeiten zu einer für beide Wissenschaften fruchtbaren
Diskussion. ...
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