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Verlagsankündigung der Neuauflage von 2009:
Vom ersten Moment unseres embryonalen Daseins an stehen wir im
Austausch mit unserer Umgebung. Wie entscheidend unser gesamtes Leben
von unseren vorgeburtlichen und vorsprachlichen Erfahrungen
geprägt wird, führt uns Marianne Krüll eindrücklich
vor Augen: Ein überzeugendes Plädoyer für eine bewusste
Rückbesinnung auf unsere früheste Erlebniswelt.
Anschaulich beschreibt das Buch, wie unser vorgeburtliches
Leben, die Geburt und die ersten nachgeburtlichen Monate die Grundlage
für unseren Zugang zur Welt bilden. Neueste Ultraschall- und
gehirndiagnostische Verfahren gestatten uns faszinierende Einblicke in
das Leben als Embryo und Fötus.
Marianne Krüll begleitet ihre Leserinnen und Leser auf einer Reise
zu den Ursprüngen der eigenen Menschwerdung. Sie setzt sich dabei
kritisch mit der klinischen High-Tech Geburtshilfe sowie den Fragen der
Gentechnik und der Reproduktionsmedizin auseinander. Leidenschaftlich
plädiert sie für ein ganzheitliches Menschenbild, das
Körper, Geist, Selle und die soziale Umwelt in Einklang bringt.
"Das Buch wird verdientermaßen weite Kreise ziehen - zum
Wohle vieler (noch ungeborener) Kinder und ihrer Mütter und
Väter." Theresia Maria de Jong, Kommunikationswissenschaftlerin und
Autorin.
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Aus dem Vorwort der Autorin zur vierten Auflage 1997:
Ich freue mich, daß
dieses Buch nach acht Jahren in einer Neuauflage erscheint, ist dies doch
ein Zeichen für das wachsende Interesse an meiner Geschichte des
Mensch-Werdens. Das gibt mir wieder neue Zuversicht, daß die von
mir angestrebte Veränderung unseres Menschenbildes hin zu mehr Einfühlung
und sozialer Verantwortung für die Behandlung unserer ungeborenen
und neugeborenen Kinder doch voranschreitet.
In den letzten Jahren habe ich nämlich den Eindruck des genauen Gegenteils
gewonnen: Gewinnbringende High-Technology in der vorgeburtlichen Betreuung
und Geburtshilfe scheint zuzunehmen; es gibt viele Fälle von Verunglimpfung
und sogar strafrechtlicher Verfolgung von ÄrztInnen und Hebammen,
die sanfte Methoden der Geburt und Neugeborenenversorgung anwenden; Hausgeburten
werden als bedrohlich dargestellt, die nachweisbaren Gefahren von Klinikgeburten
dagegen verschwiegen; die Eigenverantwortung der Schwangeren und Gebärenden
wird weiterhin zugunsten eines Machtzuwachses von - überwiegend männlichen
- "Experten" zurückgedrängt ...
Ich bedaure auch sehr, daß die von mir im vorliegenden Buch aufgezeigten
Zusammenhänge zwischen der bei uns vorherrschenden Geburts-"Un"-Kultur
und gesamtgesellschaftlichen Problemen wie Gewalt an Kindern, Zunahme
von Suchtverhalten, generelles Ansteigen von irrationaler Angst, Sinn-Entleerung
unserer Beziehungen - um nur einige zu nennen - viel zu wenig beachtet
werden.
Vielleicht handelt es sich dabei aber auch nur um ein Wellen-Tief, das
bald überwunden ist. Denn auch die vielen positiven Entwicklungen
sind nicht zu übersehen: Veränderungen bei Frauen und auch bei
immer mehr Männern der jüngeren Generation bezüglich ihrer
Rollen in Familie und Gesellschaft; wachsendes kritisches Bewußtsein
gegenüber Gewalt und Mißbrauch; zunehmendes ganzheitliches
Denken ...
Möge mein Buch zu solchen Entwicklungen weiter beitragen!
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Aus Rezensionen zur Neuauflage von 2009:
"GreenBirth e.V."
http://www.greenbirth.de/html/diegeburtistnichtderanfang.html (Anna-Margarita Schepper)
Wer sehen möchte, wie sich wissenschaftliche Hingabe mit ethischer
Aufmerksamkeit verbinden kann, greife zu diesem Buch. Hier ist es gelungen, ein
umfangreiches interdisziplinäres Wissen über den Lebensanfang liebevoll
zusammenzustellen und in verständlicher Form mitzuteilen. Mit dem Titel „Die
Geburt ist nicht der Anfang“ zieht die Autorin den Vorhang auf, hinter dem
bisher nicht beachtete Figuren und Zusammenhänge der vorgeburtlichen Lebenszeit
sichtbar werden. Auf dieser Bühne erscheinen in sechs Akten die Zeit des
Embryos, des Föten, die Geburtserfahrung, das Erleben vor der Sprache und in
der Sprache und schließlich ein „neues Menschenbild“. Schauplätze sind das
körperliche Geschehen, die psychischen Erlebnisdimensionen, die
Mutter-Kind-Bindung, unsere Geburtskultur in Gegenüberstellung zu einer ganz
anderen auf Bali, die Kultur des 1. Lebensjahres - auch mit einem
vergleichenden Blick zur Kultur auf Bali, Sprache und „körperlich-sinnliche
Innenwelt“ sowie Sprache und „soziale Außenwelt“.
Zu jedem Schauplatz wählt Marianne Krüll, von Hause auf Soziologin und
feministisch engagiert, Material aus, das über konventionelles Wissen aus Biologie
und Medizin, Psychologie und Sprachforschung hinausgeht. Durch die
Quellenauswahl – Krüll widmet sich auch dem Studium der Hirnforschung und
verschafft sich einen Überblick über Fragen der Gentechnologie und deren
Anwendung - ergeben sich erfrischende Aufräumeffekte, z. B.:
„Wenn wir die ‚Geschichte’ unseres Mensch-Werdens mit dem vorgeburtlichen
Leben beginnen, dann wird auch die Diskussion hinfällig, ob ‚genetische Anlage’
oder ‚Umwelt’ entscheidend sei. Denn in allerjüngster Zeit sind Genforscher zu
der unerwarteten, sie selbst überraschenden Erkenntnis gekommen, dass unsere
Gene zwar die Erbinformation enthalten, die aus einer befruchteten Zelle ein
menschliches Wesen werden lässt, dass Gene aber von ihrer ‚Umwelt’, sprich den
Zellen, in denen sie aktiv werden, oder den anderen Genen im Zellkern angeregt
werden müssen, um sich zu ‚exprimieren’ (auszudrücken). Mit anderen Worten:
schon in unserer allerfrühesten Zeit als Embryo waren wir von dem, was uns
umgab, abhängig.“ (Krüll 1989/2009, S. 14)
Das hat natürlich weitreichende Konsequenzen für den
Umgang mit
Schwangerschaft überhaupt. Und so scheut sich Krüll auch
nicht, Position zu
beziehen und sich auf die Seite des Kindes zu stellen. Hierfür
nimmt sie einen
Kunstgriff vor: am Ende jedes Kapitels wechselt sie zu einem Dialog mit
einem
fiktiven Gegenüber. Gegenstand dieser Gespräche sind
„Die Gentechnologie und
wir“. „Was ist ‚Vererbung’, „Zur
Abtreibung“, „Brief an meine Kinder“,
„Über
den Trieb-Begriff“, „Von Müttermythen und
Männermacht“, „Gibt es Hoffnung?“ Im
Dialog nimmt sich die Autorin Zeit zum Nachdenken über
weltanschauliche und
persönliche Entscheidungen, vor denen jede werdende Mutter und ihr
Partner
irgendwann einmal stehen, und mit denen die Autorin diese nicht allein
lässt,
sondern für die sie ihnen Anregungen zur Reflexion und Beurteilung
gibt.
So behandelt sie ihren Stoff und ihre LeserInnen, wissenschaftliche
Ergebnisse und ethische Fragestellungen mit großer Sorgfalt, was allen gut tut,
Eltern, Kindern und ExpertInnen.
"Dr. med. Mabuse" Mai/Juni 2010. Theresia Maria de Jong:
Als die Soziologin Marianne Krüll das Buch "Die Geburt
ist nicht der Anfang" 1989 zum ersten Mal veröffentlichte, war sie eine
einsame Ruferin in der Wüste: Mit dem vorgeburtlichen Leben beschäftigten sich
damals nur ganz wenige Experten, ansonsten herrschte größte Skepsis. Ein
Bewußtsein im Mutterleib wurde überhaupt kategorisch ausgeschlossen und auch
psychische Prägungen aus dieser Zeit wurden als unmöglich erachtet. Heute, zum
Zeitpunkt der überarbeiteten Neuauflage, sieht es ganz anders aus. Neueste
Ergebnisse der Gehirnforschung und auch von Beobachtungen per Ultraschall haben
bewiesen, was vorher nur anhand von Fallgeschichten belegbar war.
Marianne Krüll schildert die Welt Embryos von Anfang an
detailgetreu und auf dem Stand der aktuellsten Forschungsergebnisse. Es ist ihr
ein Anliegen, Ärzten, Hebammen - und letztlich jedem interessierten Leser - zu
zeigen, welche Erfahrungen wir selbst in den ersten neun Monaten unseres Lebens
gemacht haben. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen bekommen einige Probleme,
mit denen wir als Erwachsene konfrontiert sind, eine neue überraschende Wende.
Neue Lösungsmöglichkeiten bieten sich an.
Als Erwachsene haben wir
beispielsweise immer noch dieselben Nervenzellen wie damals als Embryo. Das
Gehirn strukturiert sich über die Sinneswahrnehmungen, die wir von außen im
Mutterleib erfahren. Auch die Frage, ob unsere Persönlichkeit durch die Umwelt
oder durch unsere Gene bestimmt wird, erhält durch das neue Wissen um die Zeit
im Mutterleib eine neue Komponente. Die Autorin zeigt, wie sehr die Entwicklung
unserer Sinnesorgane und unseres Nervensystems stets mit den Sinnesreizen im
Austausch stand, denen wir von ersten Moment unseres Lebens an ausgesetzt
waren. ... Je früher bestimmte Erfahrungen gemacht werden,
umso grundlegender beeinflussen sie den Aufbau unseres Gehirns und prägen sich
dementsprechend ein. ... Aber auch die unterschiedlichen
Erfahrungen der Geburt beeinflussen unser Leben, wie die Autorin anhand
wissenschaftlicher Forschungen belegt.
So konnte nachgewiesen werden, daß es beim Synapsenwachstum im Gehirn offenbar
kritische Phasen gibt - die Geburt ist eine solche. ... Es ist keineswegs
egal, wie wir auf dieser Welt "ankommen". ...
Nach der Lektüre des Buches gibt es keinen Zweifel mehr:
Schwangerschaft und Geburt sind Phasen mit höchster
Prägekraft und bedürfen
daher der liebevollen und empathischen Begleitung und
Unterstützung. ... Der Autorin ist es gelungen, sprachlich
anregend und
spannend die Entwicklung des Menschen von Anfang an zu beleuchten und
dabei
herauszuarbeiten, wie bedeutungsvoll dieser Anfang für unser
weiteres Leben
ist.
"Socialnet" www.socialnet.de/rezensionen/8639.php, Januar 2010 Prof. Christina Jasmund
Frau Krüll hat dieses Buch
als Überarbeitung ihres in den 80ziger Jahren veröffentlichten
und mehrfach aufgelegten Buches auf Anfrage des Verlages Clett-Kotta
geschrieben. Es enthält neben einer umfassenden Aktualisierung
des wissenschaftlichen Forschungsstandes auch ihre persönliche
Wertung gegenwärtiger medizinischer Praxis und
gesellschaftlichem Konsens als gesellschaftskritische
Auseinandersetzung. ...
Frau Dr. Krüll unterstützt
durch Ihr Buch eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit
diesem Thema. Menschliche Entwicklung aus entwicklungspsychologischer
Sicht konsequent als Kulturprodukt zu begreifen ist in der
Wissenschaft noch ein junger Standpunkt und steht auch heute noch dem
(übermächtigen?) Lager der Vererbungstheorie gegenüber.
Dieser permanente theoretische Streit bildet die ethische Grundlage
für unseren Umgang mit diesem Abschnitt im Leben jedes Menschen.
Unsere Einstellung und Haltung, beeinflusst durch dieses
Menschenbild, hat Auswirkungen auf die Gestaltung dieser Zeit. Sie
lenkt Schwangere und ihre soziale Umwelt, entscheidet wo und wie die
Geburt verläuft, in welche Abhängigkeiten sich Gebärende
dabei begeben oder nicht und bestimmt das Sozialverhalten der
Bezugspersonen kleiner Kinder. Sie beeinflusst später die Art
der frühkindlichen Betreuung und der Schulform, den Weg des
Hineinwachsens eines Menschen in unsere kulturelle Gemeinschaft. Wer
versteht, dass in diesem sozialen Prozess jedem Kind die gleichen
Chancen seiner individuellen Entwicklung zustehen, wird einen
kritischen Blick auf die derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen
der Sozialisation unserer Kinder werfen.
Fazit
Marianne Krülls Buch stellt
eine faszinierende Kombination aus entwicklungspsychologischer
Fachliteratur, feministischer Streitschrift und einem spannenden
Abenteuerroman unserer Ontogenese dar und ist ein echtes
Lesevergnügen.
Der fachliche Teil ist hochaktuell,
wissenschaftlich fundiert und verständlich abgefasst. Ein
anderer Fokus wird über Streitgespräche, dem Vergleich von
unterschiedlichen Geburtskulturen und den Auswirkungen von sozialen
Bedingungen auf Schwangerschaft, Geburt und frühkindlicher
Entwicklung angeboten. Der letzte Blickwinkel erinnert leise an eine
Reise ins ICH.
Dieses Buch ist viel mehr als eine
reine Fachliteratur. Es ist ebenso eine Aufklärungsschrift für
einen bewussten Umgang mit Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft
und sollte darum nicht nur in den Bibliotheken der einschlägigen
Fachrichtungen sondern auch in Elternschulen,
Schwangerenberatungszentren und bei interessierten jungen Eltern und
ihren Familien ankommen. Es bietet neben der soliden
Wissensvermittlung eine kritische Auseinandersetzung mit eigenen
Haltungen und vorhandenen medizinischen und sozialgesellschaftlichen
Strukturen.
"Bzw-weiterdenken" http://www.bzw-weiterdenken.de/index.php?m=artikel&rub=7&tid=240, Dezember 2009 Juliane Brumberg
Marianne Krüll hat ihr Buch "Die Geburt ist nicht der Anfang", das
im Jahr 1989 zum ersten Mal erschien, völlig überarbeitet und neu
herausgegeben. Sie vertritt die spannende These, dass eine Veränderung der Geburtskultur in
den modernen Industrieländern eine Möglichkeit oder vielleicht sogar die
Voraussetzung für eine menschenfreundlichere Gesellschaft ist. Die bei uns
üblichen technisch überwachten Geburten in die Kühle eines Krankenhaussaals mit
dem anschließenden Untersuchungsprocedere würden für den kleinen Säugling, der
aus der warmen Höhle des Uterus kommt, einen solchen Schock bedeuten, dass sich
in seinen Gehirnstrukturen eine Urangst verankere, die mit dem Verstand nicht
fassbar sei. Dies gälte insbesondere für eingeleitete und
Kaiserschnitt-Geburten, die mittlerweile dreißig Prozent aller Geburten
ausmachten. Marianne Krüll ist überzeugt davon, dass diese "übermächtigen
irrationalen Ängste unsere sozialen Beziehungen zu einzelnen, in Gruppen und
ganzen Völkern vergiften", und ich verstehe ihr Buch als Plädoyer für
einen freundlicheren Empfang der neuen Menschen bei ihrer Geburt.
Dieses Plädoyer hat sie gründlich erarbeitet und zunächst mit medizinischem
Detailwissen und erklärenden Grafiken beschrieben: wie sich ein Menschlein und
seine Organe von der Zeugung bis zur Geburt im Uterus entwickeln, wann sich
Gleichgewichtsempfinden, Fühlen, Hören und Sehen herausbilden und wie
schließlich in einer Art Tiefenkommunikation ein vorgeburtliches Bonding, eine
Beziehung zwischen Mutter und Fötus entstehen kann. Da die Autorin diese
hochkomplexen Prozesse in einer einfachen Sprache erklärt und mit persönlichen
Erfahrungsberichten anschaulich macht, ist das Buch für werdende Mütter und
Väter eine lohnende Begleitlektüre während der Schwangerschaft, zur
Vorbereitung auf die Geburt und für die ersten Lebensjahre des neugeborenen
Kindes. Denn auch hier beschreibt sie sehr fundiert die neurophysiologischen
Veränderungen bei den ersten Anfängen der selbstständigen Erkundung der Welt
sowie die Prozesse beim Spracherwerb. ...
Leidenschaft und Gründlichkeit zeichnen das Buch aus. Ich habe es als ein
bewusst emotionales Buch wahrgenommen - zum Wohl unserer Kinder und unserer
Beziehung zu ihnen. Marianne Krüll prangert an, dass "Angst die treibende
Kraft ist, die Schwangere motiviert, sich in die vermeintlich sichere Obhut der
Klinikärzte und ihrer Apparatemedizin zu begeben, ohne zu bemerken, dass Angst
auch die Ärzte treibt".
Nicht verwunderlich, dass in der Beschreibung des Beziehungsgeschehen um das
Werden und Wachsen eines neuen Kindes die Möglichkeiten der modernen
Fortpflanzungsmedizin nicht besonders gut wegkommen. Ich verstehe Marianne
Krüll hier als Mahnerin und ich finde es wichtig, dass sie mahnt und auf die
Konsequenzen für alle Beteiligten hinweist. Neben den Folgen für die Psyche widmet
die Autorin sich ausführlich der Gentechnologie - und fällt ein erschüttertes
und erschütterndes Urteil: Sie sieht die Menschheit durch die Gentechnologie
existenziell bedroht. ...
Danach
hat sich das Wissen in diesem Bereich im Jahr 2007, unbemerkt von der
allgemeinen Öffentlichkeit, grundlegend verändert: Es gibt keine Gene mit
feststehender DNA, die nur entschlüsselt werden muss und evt. künstlich
"verbessert" werden kann. Vielmehr scheint es unzählige, diffizile
Interaktionen zwischen Genomen und DNA-Sequenzen zu geben. Das Erbgut ist also
nicht festgeschrieben, sondern in ständiger Veränderung, auch durch Einflüsse
von außen. Alles ist mit allem in Beziehung. Die Autorin schreibt: "Alle
Vorstellungen darüber, wie wir gesteuert sind, müssen wir aufgeben. Wir haben
keine stabilen Gene von unseren Eltern geerbt, die in jeder unserer Zellen
vorhanden sind, sondern unser Erbgut ist in ständigem Umbau begriffen."
Sie meint, dass viele Forscher und die Hersteller der Produkte aus dieser
Technologie die neuen Forschungsergebnisse ausblenden: "Das neue Wissen
darüber, dass Gene nicht in der bisher gedachten Form existieren, wird
ignoriert, um die Absatzchancen der Produkte nicht zu gefährden".
Infolgedessen setzt sie hinter den Nutzen von Gentests während der
Schwangerschaft ein großes Fragezeichen.
Hier die Aufmerksamkeit zu schärfen, halte ich für ein großes Plus des Buches!
Doch ergeben sich in meinen Augen auch zwei heikle Punkte bei der
Beschäftigung mit diesem Buch. Den ersten, die Frage der Abtreibung, spricht
Marianne Krüll bewusst an: Wird mit der ausführlichen Schilderung
vorgeburtlichen Lebens Abtreibungsgegnern Material in die Hand gespielt?
In einem der "Dialoge", mit denen sie die sachlichen Erklärungen
der jeweiligen Kapitel abschließt, geht sie davon aus, dass fast jede Frau, die
sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, Schuldgefühle hat,
unabhängig davon, wie genau sie über die Entwicklungsphasen des Fötus in ihrem
Körper, z.B. durch dieses Buch, Bescheid weiß. Marianne Krüll stellt fest, dass
an jeder, auch einer ungewollten Schwangerschaft, immer auch ein Mann beteiligt
ist und dass unsere patriarchale Kultur die mütter- und kinderfeindlichen
Bedingungen geschaffen hat, unter denen Frauen Kinder großziehen müssen.
Insofern sieht sie es als eine durchaus verantwortungsvolle Entscheidung, wenn
eine Frau sich zum Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft entschließt,
"denn ein Kind, das seinen Eltern, insbesondere seiner Mutter, eine Last
ist, kann nur in Ausnahmefällen zu einem Menschen heranwachsen, der mit sich
und der Welt eins ist".
Unsicherer steht sie "empfohlenen" Abtreibungen bei einer
gewollten Schwangerschaft im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik gegenüber
und beklagt den zunehmenden gesellschaftlichen Druck auf Eltern mit einem
behinderten Kind, "weil sie es doch hätten abtreiben können". Sie
nennt das eine "neue Eugenik", die nicht weit von der der
"Vernichtung unwerten Lebens" im Rahmen der Nazi-Ideologie entfernt
ist. Deshalb beurteilt sie auch Gentests, um angeblich "defekte" Gene
herauszufiltern, als höchst problematisch.
Sie selbst würde sich heute weigern, irgendwelche Vorsorgeuntersuchungen dieser
Art vornehmen zu lassen, weiß aber, dass die sozialen, ökonomischen und
psychischen Lebensbedingungen vieler Frauen dieser Haltung entgegenstehen und
sie deshalb nicht ohne Weiteres zum Ideal erhoben werden kann.
Mit meiner zweiten "heiklen Anmerkung" denke ich an Situationen,
in denen Mutter und Kind früher, ohne die heutigen Apparatemedizin, keine
Überlebenschance gehabt hätten; und an die Frauen, deren Hoffnung auf einen
natürlichen, stimmigen Geburtsablauf sich nicht erfüllen ließen. Ich halte es
für ungeheuer wichtig, die Zeit "rund um den Anfang" in den Blick zu
nehmen, so wie Marianne Krüll es getan hat und sich für möglichst natürliche
Geburten einzusetzen. Andererseits kann das zu einem starken Druck für die
Mütter werden, eine "perfekte" Geburt hinkriegen zu müssen. Deshalb
halte ich es für ebenso wichtig, nicht zu konkrete Vorstellungen zu
formulieren, sondern Mütter und Väter zu ermutigen, offen zu sein, für das, was
geschehen wird, also im Zweifelsfall auch für Unterstützung durch die moderne
Geburtsmedizin. Und darauf zu vertrauen, dass es vielfältige Möglichkeiten
gibt, die Beziehung zu einem Kind gut zu entwickeln, auch wenn die
Voraussetzungen nicht optimal sind.
"Die Auswärtige Presse e.V." Internationale Journalistenvereinigung Hamburg
http://die-auswaertige-presse.de/2010/03/die-geburt-ist-nicht-der-anfang/#more-518 März 2010 Götz Egloff
Die große Dame der Gender-Soziopsychologie Marianne Krüll hat ein
herausragendes Werk über das Werden des Menschen vorgelegt. In
gefühlvollem und klugem Ton führt sie in Welten ein, die manchem
Menschen als weit entfernt liegend erscheinen mögen, deren unmittelbare
Relevanz für das Leben jedoch größer nicht sein könnte.
Dass der Mensch ein historisches Wesen ist, ist nachvollziehbar. Dass
der Mensch ein sprachliches Wesen ist, wer wollte das bestreiten? Dass
schon früheste Erfahrungen – zurückreichend bis in den mütterlichen
Uterus – Körpererinnerungsspuren hinterlassen, sind wichtige
Erkenntnisse der prä-, peri- und postnatalen Psychologie.
Kaum wird dies so plastisch dargestellt wie im Buch von Marianne Krüll.
Mit einer fundierten biologischen Einführung eröffnet die Autorin den
Raum für neurobiologische, psychologische und soziokulturelle
Erkenntnisse und deren Relevanz im Blick auf das Werden des Menschen.
Die Betrachtung des Anfangs des Lebens auf innerzellulärer Ebene,
sozusagen von der Zygote, der ersten Zelle, an, stellt Grundlage und
Prisma für die weiteren Überlegungen der Autorin dar. Medizinische
Laien erhalten Einblick, Fachleute eine Auffrischung über die
Entwicklung des Lebewesens auf molekularer Ebene. Das Thema
Genexpression und zelluläre Entwicklung im Rahmen der Induktion durch
die Umwelt bringt Licht ins Dunkel der zwischen Natur- und
Sozialwissenschaftlern heftig geführten Anlage-Umwelt-Debatte....
Möglichkeiten und Grenzen der Plastizität neuronaler
Netzwerke in der Hirnentwicklung stellt Marianne Krüll anschaulich dar.
Der Blick auf die frühesten Erfahrungen des Embryos und des Fötus
erweitert hierbei die Perspektive, wobei wichtige Erkenntnisse der
führenden Pränatalpsychologen wie Thomas Verny, John Kelly und Ludwig
Janus herangezogen werden. Einblick in die Zwillingsstudien von
Allessandra Piontelli ergänzen die Überlegungen der Autorin. Neben der
Darstellung der Motorik und Sensorik des Fötus werden dann die
Implikationen der heute möglichen pränataldiagnostischen Verfahren
erörtert, deren Relevanz in ihren Auswirkungen auf das
Schwangerschaftserleben der werdenden Mutter nicht zu unterschätzen
ist. Gerade wenn man bedenkt, wie viele verunsicherte schwangere Frauen
ärztliche und psychotherapeutische Praxen aufsuchen, um angesichts der
heutigen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik Orientierung, vor allem
aber Entlastung und Beruhigung zu erfahren, wird die Brisanz dieses
Themas überdeutlich. Ob Chorionzottenbiopsie, Amniozentese oder andere
Verfahren für die Patientin nützlich sein können, ist nur individuell
auszuloten. Mit notwendigem kritischen Blick nimmt sich die Autorin
dieses Themas an.
Und dieses Buch bietet noch mehr: Geburt und Geburtsformen werden
dargestellt. ...die soziokulturellen
Bedingungen des ersten Lebensjahres werden ... ausführlich behandelt und denen auf Bali
gegenübergestellt – dies mit dem notwendigen Augenmaß in Bezug auf
interkulturelle Vergleiche.
Ein ebenso eindrucksvoller Teil des Buches beschäftigt sich ausführlich
mit der Sprachlichkeit des Menschen und der damit konstitutiven
kommunikativen Funktion der Sprache als anthropologische Grundkonstante
des Menschseins. Auch hier finden anatomische und neurophysiologische
Grundlagen ihren Platz. Die Sprache als Akt des Handelns und als
Gefühlsausdruck werden beleuchtet und in kommunikationstheoretische
Zusammenhänge eingebettet (Bateson). Symbolisierungsfähigkeit und
Ich-Du-Unterscheidung, also Selbst- und Objektdifferenzierung, in der
kindlichen Entwicklung stellt Marianne Krüll besonders spannend und
anhand von höchst anschaulichen Fallbeispielen dar. Wie sehr Sprache
psychische Wirklichkeiten konstruiert, wird eindrücklich erläutert. Dass
psychische Störungen eben auch als Sprachspiele verstanden werden
können und somit auch als kontextabhängige Symbolisierungsleistungen,
deren Interpretation ebenso kontextabhängig ist, macht dieses Buch
ebenso deutlich. ...
Ein
Ausblick und Kontakthinweise zu verschiedenen Fachgesellschaften sowie
ein Glossar für medizinische Laien runden das Werk ab. ... (Eine) eindrucksvoll
gelungene Zusammenschau biologischer, tiefenpsychologischer und
systemtheoretisch-konstruktivistischer Aspekte der menschlichen
Entwicklung, die immer praxisorientiert und lebensnah auftritt, ohne
vielschichtige Zusammenhänge unnötig zu vergröbern.
Besondere Würdigung gilt dem Stuttgarter Klett-Cotta Verlag, der mit
der Veröffentlichung dieser komplexen Verknüpfung aus anthropologischer
Grundlagenschrift und Synopsis angewandter Forschung wiederum die, wie
das Buch zeigt, unnötige Lücke zwischen Natur- und
Kulturwissenschaften schließt. Dieses großartig gelungene Werk ist
wärmstens zu empfehlen.
Aus Rezensionen zu den ersten Auflagen:
"Frankfurter
Allgemeine Zeitung" März 1990. Willi Köhler:
Was ist das Ungewöhnliche (an Marianne Krülls neuem Buch)? Die
Zusammenstellung aktueller Forschungsergebnisse, empirisch erhobener biologischer
Befunde, gründlicher Literaturrecherchen, persönlicher Bekenntnisse
und wertender Betrachtungen. Auf kompakte wissenschaftliche Passagen folgen
stets "Dialoge" der Autorin mit fiktiven Gesprächspartnern,
Einschübe, in denen ethische, soziale und politische Folgerungen
aus dem eben Dargestellten verhandelt werden.
Auch in diesem Buch, wie schon in ihren früheren, greift Marianne
Krüll das Thema der gesellschaftlich produzierten Menschenbilder
auf. Nach ihrer Ansicht sind auch die Einstellungen zur Geburt und zur
intrauterinen Entwicklung des Ungeborenen von den jeweils sozial vereinbarten
Menschenbildern geprägt. ... Sie (schlagen sich) nicht nur im Verhalten
gegenüber dem "werdenden" Menschen nieder, sondern auch
im wissenschaftlichen Interesse an den Entwicklungsvorgängen im Mutterleib.
Marianne Krüll will die " Geschichte" der Menschwerdung
"neu erzählen", neu nicht nur in dem Sinne, daß sie
alles zusammenträgt, was die humanbiologische Forschung zutage gefördert
hat, neu auch in dem Sinne, daß sie "rekursiv" erzählt,
d.h. sich als Erzählerin nicht auf Distanz hät, sondern als
Betroffene "einbringt". ...
Bereits im Mutterleib ist der Mensch mehr Mensch, als wir im allgemeinen
annehmen. So ist der Embryo in den ersten acht Wochen bereits Körper,
wogegen der Fötus, als das Ungeborene bis zur Geburt, seinen Körper
schon fühlt. In der Embryonalzeit bilden sich die meisten Körperfunktionen
aus, in der Fötalzeit entwickelt sich vor allem das Großhirn,
dieses rätselhafte Gebilde, das die Wissenschaft gerade erst zu erkunden
beginnt. Nach allem, was wir heute wissen, wird das Gehirn nicht von Genen
strukturiert, sondern ist, so die Autorin, eine Art "Bio-Computer",
der neben der "Datenspeicherung" noch sein "Programm"
selbst zu programmieren weiß, und zwar anhand der Erfahrungen, die
er macht. Die Erfahrungen im Mutterleib werden für das Ungeborene
zu einer Art "Orientierungskarte" von der Welt, eine Vorstellung,
die zeigt, wie entscheidend die vorgeburtliche Entwicklung ist.
Die "Geburtskultur" wird auch mitgeprägt von dem Bild,
das sich die Gesellschaft von dem Ereignis macht: Wird die Geburt als "gefährliche
Krankheit" angesehen, die es durchzustehen gilt, so wird man mit
ihr anders umgehen als in einer Gesellschaft, in der das Kind unter allgemeiner
freudiger Anteilnahme zur Welt kommt, wie etwa auf Bali, dessen menschenfreundliche
Kultur die Autorin des öfteren zum Vergleich heranzieht. In unserer
Gesellschaft, in der die Klinikgeburt zum Standard geworden ist, kommen
fast alle Menschen "gedopt" zur Welt, nämlich unter Einfluß
von Medikamenten,
Die jeweilige "Geburtskultur" legt nach Krüll schließlich
auch den sogenannten Volkscharakter fest. In von Gewalt durchdrungenen
Gesellschaften, wie den westlichen, könne auch der Geburtsvorgang
nur von Elementen der Gewalt belastet sein, die ihrerseits zur Konstituierung
eines entsprechenden Sozialcharakters beitrügen. ... Auch in der
vorsprachlichen Zeit ... nehmen Kinder im Sinne einer "Tiefenkommunikation"
den atmosphärischen Kontext von Situationen wahr.
Als feministische Autorin kann Marianne Krüll nicht umhin, zum Thema
Abtreibung Stellung zu nehmen. Nach ihrer "Neuerzählung"
der ersten Kapitel unseres Lebens ist Abtreibung zwangsläufig Tötung,
die allerdings nicht allein der Frau anzulasten sei, sondern der Gesellschaft
insgesamt, die sich in "scheinheiliger Heuchelei" über
ihr allgemeines Gewaltpotential hinwegtäusche. Das Fazit der Autorin,
zugleich düstere Analyse wie Appell: "Wenn sich in unserem Kulturkreis
ein Menschenbild entwickelt hat ..., das mehr oder weniger nur den erwachsenen
Menschen umfaßt, dann können die Menschen bei uns auch ihre
Verbundenheit mit dem Ursprung, im weitesten Sinne mit der Natur, nicht
mehr erkennen."
"intra" März 1990. Gabriella Selva:
Die Autorin rückt in diesem Buch einen Lebensabschnitt in den Fokus
der Aufmerksamkeit, dem in den meisten psychologischen Betrachtungen über
den Menschen wenig Beachtung geschenkt wird: das vorsprachliche Leben
als Fötus, Säugling und Kleinkind. Dann zeigt sie, welch drastische
Änderungen mit dem Eintritt in die Sprache verbunden sind. Im Untertitel
verspricht sie, diese ersten Kapitel unseres Lebens neu zu erzählten.
Sie hält dieses Versprechen gleich zweifach: Einmal, indem sie das
Mensch-Werden als ihre persönliche Geschichte erzählt ... (und
indem sie einen) rückbezüglichen Denkstil (anwendet), d.h. die
Einsicht (hat), dass das Denken und Erkennen eines Menschen immer mit
seiner Geschichte zusammenhängt.
"Schweizer
Hebamme" April 1994. Lisa Frankhauser:
Marianne Krüll erzählt in ihrem Buch über die Entwicklung
während der Monate im Bauche unserer Mutter und der darauffolgenden
vorsprachlichen Zeit unseres Lebens. Während der Lektüre dieses
Buches entstand wirklich ein Kind, mit jeder weiter gelesenen Seite wurde
es grösser und reifer: Sich entwickelnde Augen wurden sehend, Ohren
hörend, die Hände und Füsse tastend und fühlend ...
Schon als Embryo stehen wir laut Marianne Krüll unter dem Einfluss
unserer Umgebung. Diese Gedanken sind sicherlich für viele Hebammen
nicht neu. ... Neu aber war ... die Einsicht, dass sich diese Umgebung
auch körperlich, in unserem Nervensystem nämlich, niederschlägt.
... So gibt es also nicht Anlage und Umwelt oder, anders gesagt, Vererbung
oder Einfluss der Gesellschaft auf den Lebenslauf eines jeden Individuums.
... das eine ist ohne das andere nicht denkbar ... die Lebensgeschichte
eines jeden von uns ist einerseits festgelegt, ... andererseits auch flexibel
und offen. ... Marianne Krülls Buch ist nicht nur Fachlektüre,
es ist ein Lesevergnügen zugleich. Dass es ihr gelungen ist, Fachwissen
als spannende Geschichte zu erzählen, die alle von uns erlebt haben,
macht das Buch äusserst wertvoll. Den Hebammen, Müttern, Vätern
und anderen Wissbegierigen sei es als eine packende Geschichte ... empfohlen.
"Psychologie
Heute" Januar 1990. Dagmar Metzger:
Für Marianne Krüll gibt es einen engen Zusammenhang zwischen
Geburtskultur und "Volkscharakter" im Sinne spezifischer kollektiver
Persönlichkeitsmuster. ... Die Geburt als alles entscheidendes Erlebnis
im menschlichen Leben? ... An diesem Punkt bringt Marianne Krüll
die Sprache ins Spiel: ... sie ermöglicht nach Marianne Krülls
Meinung die Chance, Verwirrungen und Defizite aus der vorsprachlichen
Zeit zu überwinden. ... Ihr Buch enthält nicht nur den bemerkenswerten
Ansatz einer Theorie vorgeburtlicher und frühkindlicher Sozialisation,
sondern auch eine stringente, aber dennoch umfassende Zusammenfassung
der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Zeit zwischen Zeugung
und Spracherwerb des Kleinkindes.
"Neue Zürcher
Zeitung" März 1990. O.N.:
Marianne Krüll erzählt ihre Geschichte des Menschwerdens in
der Wir- oder Ich-Form, und sie erzählt sorgfältig und liebevoll.
Selbst komplizierte physiologische oder neurologische Zusammenhänge
werden für den Laien verstehbar ... Ihr Bericht kann als eine spannende
Reise durch die menschliche Vor- und Frühzeit charakterisiert werden.
"Wir Eltern" Juli 1989. Silvia Hoffmann:
"Die Geburt ist der Start in ein neues Leben. Was war davor? Es war
etwas vollkommen anderes. So verschieden von dem draussen, dass wir es
uns kaum vorstellen können. Und doch war das der wahre Anfang unseres
Lebens. ... Wir erinnern uns nicht bewusst daran, weil die Spuren überlagert
sind von allem, was später hinzugekommen ist. Aber wir können
versuchen, uns das auszumalen, uns ein genaueres Bild davon machen, mit
Hilfe der Informationen, die aus der pränatalen Forschung seit einigen
Jahren bekannt sind.
Marianne Krüll, Soziologin an der Universität Bonn und seit
acht Jahren mit diesem Thema beschäftigt, (beschreibt) die sinnlichen
Wahrnehmungen und Befindlichkeiten eines Kindes im Uterus. ...
Es ist (jedoch) nicht richtig, dass alles, was in der pränatalen
Phase, bei der Geburt, in der frühen Säuglingszeit passiert,
so endgültig prägend und nicht wiedergutzumachen für einen
Menschen ist. (Die Autorin zitiert) Alfred Tomatis, (der) mit seinen aufsehenerregenden
Therapieerfolgen bei autistischen Kilndern das Gegenteil bewiesen (hat).
Indem er mit dem sogenannten "Elektronischen Ohr" den vollkommen
in sich selbst zurückgezogenen Kindern die Stimme ihrer Mutter so
gefiltert vorspielte, wie sie diese während der Schwangerschaft gehört
haben, führte er sie langsam auf die Geburt zu und liess sie den
Akt des Geborenwerdens akustisch noch einmal erleben. In der Folge blühten
diese Kinder auf, begannen, Kontakt mit ihrer Umwelt aufzunehmen! Es ist
möglich, sagt Marianne Krüll, Erinnerungen aus der pränatalen
Phase in die nachgeburtliche Phase herüberzuholen und das, was gespeichert
war, umzustrukturieren.
"Familiendynamik
- Interdisziplinäre Zeitschrift für systemorientierte Theorie
und Praxis" Juli 1990. Jürgen Hargens:
Schon immer hat sich Marianne Krüll dafür stark gemacht, Forschung
in allen Wissenschaften psycho-soziologisch zu begreifen, die Zusammenhänge
zwischen theoretischen Entwürfen und Theoretikern zu sehen und als
wesentliches Element der Wissenschaft zu berücksichtigen. Und da
nimmt Krüll sich selber nicht aus - sie hat jetzt "ihre"
Geschichte geschrieben ... Herausgekommen ist eine faszinierende Reise
durch die Geheimnisse der Menschwerdung. ...
In ihre Geschichte der vorgeburtlichen Entwicklung integriert Krüll
vorhandene Erkenntnisse zu einem neuen Ganzen. Sie "versetzt"
sich nicht einfach in den Embryo oder Fötus hinein/zurück, sondern
beschreibt, ... welche Möglichkeiten denkbar sind und welche Fragen
"Wissenschaft" nicht hat beantworten können. ... Krüll
weist immer wieder darauf hin, daß wir Teil eines Musters sind,
das weit über uns hinausreicht - Muster von Mustern, Programmierung
der Programmierung, Steuerung der Steuerung-: diese rekursiven Prozesse
kennzeichnen unsere Entwicklung, ... finden aber in der traditionellen
männlichen Wissenschaft kaum Erwähnung. ... Mögen diese
Geschichten, das ist der Wunsch des Rezensenten, viele andere Geschichten
gebären, in Bescheidenheit, Demut und Ehrfurcht "vor dem Nicht-Kontrollierbaren,
Nicht-Machbaren, dem Unnennbaren, das wir nie erfassen und erkennen können,
eben weil wir Menschen sind".
"COSMOPOLITAN" Dezember 1989. Auszüge aus einem Interview mit Marlet Schaake:
(Vorbemerkung:) Marianne Krüll, Soziologin, Dozentin an der Universität
Bonn, Autorin verschiedener Bücher und Mutter zweier Töchter,
hat ein Buch über die pränatale Phase geschrieben. Acht Jahre
recherchierte die Autorin, interviewte Fachleute in Europa und Amerika,
beschäftigte sich intensiv mit Medizin, im speziellen mit Neurophysiologie,
schaute sich Film- und Ultraschallmaterial über das Leben im Mutterleib
an. Marianne Krülls Buch ist keine trockene wissenschaftliche Abhandlung,
sondern beinahe ein Abenteuerroman, eine Entdeckungsreise zu den allerersten
Wurzeln des Ichs. ...
(Marlet Schaake:) Sie wollen aufklären?
(Marianne Krüll:) Ich wünsche mir, daß mein Buch andere
Menschen anregt, sich ihre Geschichte auch einmal so zu erzählen.
Denn viele Probleme, mit denen wir uns später im Leben herumschlagen,
bekommen eine andere Wendung oder sogar eine Lösung, wenn wir das
vorgeburtliche Leben mit unserem Jetzt in Zusammenhang bringen. ...
(M.S.:) Ist also nicht alles genetisch festgelegt, vererbt, unkorrigierbar?
(M.K.:) Die Diskussion, ob "Anlage" oder "Umwelt"
für die Entwicklung des Menschen entscheiden, wird hinfällig,
wenn wir die Menschwerdung mit dem vorgeburtlichen Leben beginnen. Es
geht nämlich ... darum, sich ein Bild davon zu machen, wie unendlich
flexibel die Natur des Menschen ist, wie wir schon als Embryo unter dem
Einfluß unserer Umgebung zu einem bestimmten Organismus mit bestimmten
"Bedürfnissen" werden, wie ... unser Nervensystem ... und
unsere Sinne sich durch die Aufnahme von Reizen verändern und strukturieren.
(M.S.:) Sie meinen, daß unsere Entwicklung im Uterus hauptsächlich
durch Stimulation erfolgt?
(M.K.:) ... Bis vor wenigen Jahren glaubte man, daß das menschliche
Zentralnervensystem erst voll funktionsfähig ist, nachdem es gemäß
dem genetischen Programm fertig aufgebaut, gereift ist. Heute weiß
man, daß das Gehirn sich überhaupt nur durch Stimulation ausbildet.
Das ist eine neue und wichtige Erkenntnis. Denn sie heißt ja: Nichts
ist von vornherein eindeutig festgelegt.
(M.S.:) Warum halten dann viele Wissenschaftler an der Vererbungstheorie
fest?
(M.K.:) Weil sie so bequem und einfach ist. Sie gibt auf alles eine Antwort.
Wenn man irgendein Verhalten nicht vesteht: Vererbung. Man braucht keine
zwischenmenschlichen Zusammenhänge mehr zu erkennen, braucht sich
nicht verantwortlich zu fühlen. Bequemer geht's nicht!
(M.S.:) Welche Erfahrungen machen wir denn nun im Mutterleib?
(M.K.:) Mit Hilfe des Ultraschalls hat man gesehen, daß Föten
ab der siebenten Woche Arme und Beine strecken, ... ab der zehnten Woche
sind Saug- und Schluckbewegungen zu sehen. ... Eine der eindrucksvollsten
Bewegungen ist der Purzelbaum. ... Sehr deutlich auch die Eigenstimulation
durch Hände am Mund. ... Kinder hören im Bauch die Stimme ihrer
Mutter. ... Sie nehmen schon als Ungeborene musikalische Muster auf und
speichern sie. ...
(M.S.:) Welche Auswirkungen hat das Verhalten der Mutter?
(M.K.:) Eine lebhafte, aktive Mutter liefert dem Kind andere Muster als
eine körperlich passive. Entscheidend ist auch, wie eine Frau zu
ihrer Schwangerschaft eingestellt ist, ob sie ungewollt ist oder die beglückende
Erfüllung ihrer Wünsche; ... wie ihre gesamte Lebenssituation
ist. ... Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist eine Art "Tiefenkommunikation".
Es handelt sich einerseits um hormonale und auf andere Weise biochemisch
übermittelte körperliche Zustände, außerdem aber
um eine Kommunikation, für die es keine rationale Erklärung
gibt. ... Man hält es zum Beispiel für möglich, daß
sie gemeinsam zu einer "Übereinkunft" über den Zeitpunkt
der Geburt kommen. ...
(M.S.:) Schütten Sie mit Ihrem Buch nicht Wasser auf die Mühlen
der Abtreibungsgegner?
(M.K.:) Zu wissen, wie lebendig der Fötus im Mutterleib ist, müßte
uns alle mobilisieren, Sorge dafür zu tragen, daß Frauen nicht
ungewollt schwanger werden. Außerdem finde ich, daß eine Frau,
die sich zum Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft entschließt,
weil sie die Verantwortung für ein Kind angesichts der Menschenfeindlichkeit
unserer Welt nicht übernehmen will, verantwortungsvoller handelt
als diejenigen, die sie deshalb anprangern. ... Ein Kind, das seinen Eltern,
besonders seiner Mutter eine Last ist, kann nur in Ausnahmefällen
zu einem Menschen heranwachsen, der mit sich und der Welt eins ist. Mein
Buch ist ein Versuch, diese Zusammenhänge deutlich zu machen.
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