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  Vortrag auf dem 7. Eifeler Suchtsymposion im Oktober 1996 in der Fachklinik Thommener Höhe.
Veröffentlicht in: Claudia Quinten und Walter Roeb (Hrsg.): Nach bestem Wissen und Gewissen. Ethik in der Psychotherapie. Thommener Therapie Texte 11/1, Thommen 1999. S. 33-45.
Auch als Hörcassette im Audi-torium Netzwerk, Münsterschwarzach 1996.


Psychotherapeutische Ethik zwischen Freizügigkeit (Beliebigkeit) und Verbindlichkeit

Marianne Krüll

Wie hatte es Freud im Vergleich zu TherapeutInnen der Gegenwart noch leicht in der Frage der Beziehung zwischen Psychotherapie und Ethik! Für ihn gab es nur eine, eben die Ethik, die bestimmte Menschen haben (zu denen er sich selbstverständlich selbst zählte), die andere Menschen dagegen nicht oder nur in geringerem Maß besitzen. Ein Patient müsse, so meinte er, über ein gewisses Maß an Ethik verfügen, wenn Therapie erfolgreich sein sollte. Hierzu ein Zitat:

"An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse unterziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie muß erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein ... Man darf ferner ein gewisses Maß natürlicher Intelligenz und ethischer Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen läßt den Arzt bald das Interesse im Stiche, welches ihn zur Vertiefung in das Seelenleben des Kranken befähigt." (Freud 1904, S. 106)

Was sind für ihn "wertlose" Personen, denen es an "ethischer Entwicklung" mangelt?

"Man ... weise Kranke zurück, welche nicht einen gewissen Bildungsgrad und einen einigermaßen verläßlichen Charakter besitzen. Man darf nicht vergessen, daß es auch Gesunde gibt, die nichts taugen, und daß man nur allzu leicht geneigt ist, bei solchen minderwertigen Personen alles, was sie existenzunfähig macht, auf die Krankheit zu schieben, wenn sie irgendeinen Anflug von Neurose zeigen." (Freud 1905, S.115)

Fehlende "Bildung" oder ein "unzuverlässiger Charakter" machen für ihn also eine "minderwertige, existenzunfähige" Person aus, die "nichts taugt" und deshalb von ihm für nicht therapierbar gehalten wird. Bei solchen Menschen, denen die "ethische" Basis fehlt, ist der Therapeut nicht verpflichtet, sich in ihr "Seelenleben zu vertiefen", denn diese Mängel sind in seinen Augen keine "Krankheit", sondern unveränderbares Defizit.

Woher aber nimmt Freud die Kriterien, um zu entscheiden, welche Menschen "ethisch minderwertig" und welche hochstehend sind? Woher kann er die Sicherheit nehmen, sich selbst zu den "ethisch hochstehenden" zu zählen?

Freuds Antwort darauf war seine Theorie des Triebverzichts und der Über-Ich-Bildung: Ein Mensch, der viel Triebverzicht geleistet hat (wie er selbst!), ist moralisch erhaben. In seinen eigenen Worten:

"... der Triebverzicht ... aus inneren Gründen, aus Gehorsam gegen das Über-Ich ... bringt außer der unvermeidlichen Unlustfolge dem Ich auch einen Lustgewinn, eine Ersatzbefriedigung gleichsam. Das Ich fühlt sich gehoben, es wird stolz auf den Triebverzicht wie auf eine wertvolle Leistung." "Ethik ist ... Triebeinschränkung." (Freud 1939, S. 562 und 564)

Ich weiß nicht, wie weit diese Vorstellung, daß die Bezähmung der eigenen Triebe (des Mannes?!) Ethik sei, immer noch in manchen Köpfen herumspukt. Ich selbst möchte solche Ideen als überholte Vorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts abtun. Vor allem, weil von uns Frauen in diesem Zusammenhang überhaupt nicht die Rede ist, bzw. Freud uns ja auch explizit mangelnde Ethik unterstellt, weil bei uns angeblich aufgrund des Penismangels keine so intensive Triebunterdrückung notwendig ist wie beim Mann. (Freud 1925, S. 265-6) - Doch das nur nebenbei.

Freud rechtfertigte jedenfalls sein eigenes therapeutisches Handeln als ethisch, weil er selbst seine Triebe kontrollierte und sublimierte. (Auf Freuds daraus hergeleitete Gedanken zum sexuellen Übergriffen in der Therapie werde ich später noch eingehen.)

Für heutige TherapeutInnen geht es um ganz andere Fragen der Ethik, und zwar unabhängig davon, ob sie der psychoanalytischen oder einer anderen Orientierung nahestehen. Die Verbindlichkeit des eigenen ethischen Standorts, auf die Freud sich noch berufen konnte, ist dahin. Wir können heute nicht mehr fraglos von der Ethik ausgehen und an diesem Maßstab den Wert oder die Minderwertigkeit von Menschen messen. Wir wissen um die Relativität der Werte in verschiedenen ethnischen Gruppen, in den unterschiedlichen Schichten unserer Gesellschaften, zwischen den Geschlechtern. Wir wissen, daß gerade im therapeutischen Bereich die Wertmaßstäbe von TherapeutInnen nicht unhinterfragt auf die ihrer KlientInnen übertragen werden können. Wir wissen von Mißbrauch und Übergriffen von TherapeutInnen auf die Integrität ihrer KlientInnen, gerade wenn sie von der Absolutheit ihrer eigenen ethischen Prinzipien überzeugt sind.

Wenn wir größere gesellschaftliche Gruppen oder ganze Gesellschaften betrachten, wissen wir auch, daß die Vorstellung, es gäbe nur eine verbindliche Ethik für alle, zu Fundamentalismus und Fremdenhaß führen kann - was übrigens in Freuds Zitat sogar anklingt. Die Verbindlichmachung von ethischen Prinzipien birgt daher Gefahren, die wir aufgrund von bösen Erfahrungen in der Vergangenheit, aber auch in sehr aktueller Gegenwart tunlichst zu vermeiden versuchen.

Doch bleiben wir noch im Bereich von Therapie: Wenn es keine allgemeinverbindliche Ethik für uns gibt, und wir stattdessen von einer Vielzahl von gleichermaßen "wertvollen" ethischen Systemen, also von "Ethiken" ausgehen wollen, wird es schwer, unser eigenes therapeutisches Handeln ethisch zu legitimieren.

Können wir wirklich frei und beliebig aus der Vielzahl der Ethiken, die uns bekannt sind, wählen? Ist da nicht der Freizügigkeit und Willkür Tür und Tor geöffnet, und die Gefahr der Miß-Be-Handlung der KlientInnen in noch größerem Maße gegeben als mit der rigiden bürgerlichen Ethik des vorigen Jahrhunderts?

Mir scheint, daß eine der Antworten, die heutige TherapeutInnen auf diese Frage gefunden haben, dahin geht, die "Neutralität" oder "Allparteilichkeit" als ethische Maxime ihrem Tun zugrundezulegen. In vielen psychotherapeutischen Schulen - zum Beispiel in der Familientherapie - geht man davon aus, daß der/die TherapeutIn von den eigenen Werthaltungen absehen und die der Familie unvoreingenommen, "allparteilich" aufnehmen soll. Jedes Familienmitglied soll das Gefühl haben, von dem/der TherapeutIn genauso akzeptiert zu werden wie alle anderen.

Aber kann eine therapeutische Haltung jemals "neutral" sein? Jede/r TherapeutIn steht doch immer selbst in Kontexten, die seine/ihre soziale, politische, ethische Parteilichkeit bestimmen. Ist der Anspruch, in der Therapie "neutral" sein zu können, nicht vielleicht eine Selbsttäuschung, die dazu führt, die eigene Parteilichkeit sich selbst und den KlientInnen gegenüber zu verschleiern?

Ich habe in früheren Jahren in dieser Frage hitzige Debatten mit meinen Studenten durchgestanden, denen ich in wissenschaftstheoretischen Seminaren die Relativität aller Werte deutlich zu machen versuchte. Sie kamen immer sehr schnell darauf, mir vorzuwerfen, daß ich mit meinem Relativismus einen Absolutheitsanspruch erhob, eben zu behaupten, alles sei relativ! Mich brachte das damals in größte Nöte. Denn in der Tat hatten ja meine Studenten recht: Ich widersprach mir selbst mit meinem Anspruch auf Relativität, wenn ich zwar alle Ethiken für gleichermaßen gültig akzeptieren wollte, aber dennoch meine relativistische Ethik des Sowohl-Als-Auch meinen Studenten als besser anpries. Ich stand in einem Dilemma, das scheinbar ebenso unlösbar war wie das vom Kreter der sagt, daß alle Kreter lügen.

"Neutralität" oder "Allparteilichkeit" in der Therapie bringen mich in ein ähnliches Dilemma. Denn auch diesen Anspruch kann ich nicht einhalten, weil ich immer aufgrund meiner Biographie, meiner Geschlechtszugehörigkeit, meiner aktuellen Lebenssituation usw. einen Standpunkt habe und damit parteilich bin.

Doch ich fand einen Ausweg aus dem Dilemma. Das systemische Denkmodell hat mir dabei sehr geholfen. Allerdings muß ich zugeben, daß es ein Denkmodell ist, mit dem es sich nicht leicht leben läßt, weil es in unseren Gesellschaften (anders als in vielen asiatischen geistigen Traditionen) so ungewohnt ist. Ich gehe davon aus, daß hier in Ihren Institutionen dieser systemische Ansatz bekannt ist und daß ich bei Ihnen Verständnis finde.

Systemisch heißt für mich, daß es kein "Entweder-Oder" in ethischen (oder auch in erkenntnistheoretischen) Fragen gibt, sondern wir es immer mit "Sowohl-Als-Auch" Fragen zu tun haben. Verbindlichkeit geht einher mit Freizügigkeit oder Beliebigkeit - Beliebigkeit ist nur möglich in Verbindlichkeit.

Lassen Sie mich kurz das systemische Denkmodell erläutern, wie ich es für mich "übersetzt" habe: Kernsatz ist für mich Humberto Maturanas Aussage: "Everything said is said by an observer". Er bedeutet, daß ich niemals vergessen darf, daß eine Aussage, eine Theorie, eine Bewertung usw. immer von einer Person stammen, die ihre eigene Geschichte hat. Vor allen Dingen: Meine eigenen Aussagen, Bewertungen usw. haben eine Geschichte - meine Geschichte (im wahrsten Sinne des Wortes) - und sind niemals "Wahrheit" ("Ethik") in einem objektiven Sinn, obgleich sie für mich im Moment der Aussage die einzige Wahrheit (Art der Bewertung) sind, die mir - aufgrund meiner Geschichte - zugänglich ist.

Maturana hat dafür den Begriff "Strukturdeterminiertheit" geprägt. Damit ist gemeint, daß wir in jedem Moment unseres Daseins nur das ver-wirk-lichen können, was sich bis zu diesem Moment in und um uns "aufgeschichtet" hat, und unsere Geschichte geworden ist. Wir sind - mit Maturana - ein "geschlossenes" System, wir haben in einem gegebenen Moment keine Alternative, sondern handeln so, wie unsere Struktur es bestimmt. Somit sind auch unsere ethischen Prinzipien nicht beliebig, sondern für uns zu einem bestimmten Zeitpunkt absolut verbindlich.

Wenn ich nun mit einem anderen Menschen interagiere, gehe ich davon aus, daß wir beide "geschlossene" Systeme sind, die aber durch das gemeinsame Interagieren unsere inneren Strukturen, einschließlich der Wertungen verändern. Was noch im Moment vorher für mich verbindlich war, kann es jetzt schon nicht mehr sein. Und auch bei meinem Gegenüber haben sich durch unsere Interaktion (Maturana spricht von struktureller Koppelung) Veränderungen eingestellt.

Dabei ist wichtig, daß es sich nicht um wechselseitige Eingriffe oder Übergriffe handelt, sondern um eine gleichzeitige Strukturdeterminiertheit und Strukturveränderung, die zur erneuten Strukturdeterminiertheit führt usw.

Ich mag den Begriff "Geschichte" sehr gern, deshalb lassen Sie mich Maturanas Sprache übersetzen: In eine Zwei-Personen-Interaktion - nehmen wir eine therapeutische Begegnung - bringen beide ihre Geschichte mit ein, d.h. ihre Biographie, ihre Lebenserfahrungen, die gesellschaftlichen Kontexte, in denen sie leben. Geschichte ist "aufgeschichtet", enthält als unbewußte Ablagerungen die Erfahrungen unseres ganzen Lebens von Geburt an (oder noch davor). Jede dieser Geschichten ist aber auch noch eine Geschichte im Sinne von "Erzählung", also eine verbalisierbare, bewußte Geschichte, die beide miteinander austauschen können.

Im Verlauf einer - therapeutischen - Interaktion kann nun der/die KlientIn seine/ihre Geschichte, soweit sie erzählbar ist, mit dem/der TherapeutIn teilen. Der/die TherapeutIn kann die Geschichte verstehen aufgrund ihrer eigenen Geschichte, auch wenn sie sie in der therapeutischen Situation nicht erzählt. Was nun geschieht, bzw. bei gelungener Therapie geschehen sollte, ist eine neue Geschichte, die sich der/die KlientIn erzählen kann, mit der seine/ihre Symptome besser zu handhaben sind oder gar verschwinden. Aber auch die Geschichte der/s TherapeutIn hat sich durch den Austausch mit dem/r KlientIn verändert (er/sie kann von einem neuen "Fall" berichten).

Man kann auch sagen, daß beide eine gemeinsame Geschichte ge/erfunden haben, mit der sie ihre Interaktion fortsetzen können. Allerdings kann es sich auch herausstellen, daß sich beide wieder trennen, wenn nämlich ihre Geschichten nicht mehr zusammenpassen oder sie aus irgendwelchen Gründen beschließen, ihre Geschichten nicht mehr auszutauschen und gemeinsam zu verändern.

Kommen wir zurück zu unserem Thema, der Frage nach der therapeutischen Ethik im Spannungsbogen zwischen Beliebigkeit und Verbindlichkeit.

Die systemisch-konstruktivistische Sichtweise führt also nicht zu beliebiger Willkür, nicht zu totalem Werte-Relativismus, wenn wir uns als "aufgeschichtete" Wesen betrachten. Denn unsere Geschichte legt uns auf eine bestimmte Wertorientierung fest, die uns - zum mindesten im jeweiligen Moment des Handelns verpflichtet, und somit Maßstab für unser Handeln ist.

Dennoch - und das ist wichtig - können wir uns eine Geschichte "erfinden", mit der wir unsere Wertorientierung über Bord werfen und eine andere wählen - etwa die unseres Gegenübers. In einer gelungenen Therapie ist dies meist der Fall: Der/die KlientIn übernimmt von seiner/ihrer TherapeutIn die ethischen Maßstäbe und integriert sie ins eigene Leben. Allerdings kann es auch geschehen, daß die Ethik mit der der/die KlientIn ankam, im Verlauf der Therapie sich festigt und als Gegenposition bestehen bleibt. (Ich denke hier vor allem an Therapien mit Menschen anderer Kulturen oder ethnischer Zugehörigkeit) Auch dies kann "gelungene" Therapie sein, obwohl es vielleicht dem/der TherapeutIn nicht so lieb ist.

Unsere ethischen Maßstäbe - so sehe ich es - sind niemals völlig "verbindlich" oder völlig "beliebig". Es ist wie ein ständiges Oszillieren zwischen Eingebundensein (Verbindlichkeit) und Beliebigkeit (Freizügigkeit) unserer Wertungen im Wechselspiel mit anderen Menschen, deren Wertungen in gleicher Weise "mitschwingen".

Besonders im therapeutischen Rahmen ist es sehr wichtig, sich darüber klar zu sein, daß meine urteilende Wertung über eine andere Person nur mit mir selbst zu tun hat. Was immer auch die andere Person tut oder nicht tut - es hängt von mir ab, welche ethischen oder sonstwie wertenden Kriterien ich auswähle, um sie zu beurteilen. Ich trage somit auch Verantwortung für die Wahl der ethischen Kriterien, die ich einer anderen Person entgegenbringe.

Ich habe mir inzwischen angewöhnt, nur noch positive Wertungen vorzunehmen und immer, wenn mir eine Person unangenehm oder gar abscheulich ist, danach zu suchen, was diese Abneigung mit mir selbst zu tun hat, welche "Geschichte" in meinem Leben vielleicht damit zusammenhängt. Meist gelingt es mir dadurch, mit einer solchen Person besser auszukommen oder aber auch mich leichter von ihr abwenden zu können.

Es gibt in systemisch-konstruktivistischer Perspektive keine "objektive" Trennung mehr zwischen mir und dem von mir beobachteten/beurteilten Objekt. Wenn ich eine solche Trennung vollziehe, dann ist dies meine Entscheidung, die ich jedoch durch einen Wechsel des Kontextes (durch eine andere Geschichte) auch wieder auflösen kann, so daß wir wieder eine gemeinsame Geschichte haben.

Hierzu ein Beispiel: Machtstrukturen in Gesellschaften und damit zwischen Menschen werden meist als unüberwindbar erlebt. Es heißt, wer die Macht hat, nimmt dem anderen die Freiheit. Der Ohnmächtige, so meint man, kann sich nur noch der Macht beugen. Jedoch, es ist leicht, einen Kontext (eine Geschichte) zu finden, in dem auch die härteste Machtbeziehung für die machtlos-abhängige Seite "Freiheit" oder sogar "Macht" (der Ohnmacht!) bedeutet: Wenn die ohnmächtige Person ihre Unterwerfung verweigert, wenn sie also Strafe oder andere Sanktionen in Kauf nimmt, verliert die machthabende Person ihre Macht (passiver Widerstand)! Nur wenn beide Seiten ihre Beziehung als "Macht-Ohnmacht" definieren und leben, ist "Macht" real!

Für therapeutische Situationen ist diese systemische Sichtweise von Macht außerordentlich wichtig. Sie hilft KlientInnen, sich aus unlösbaren Macht-Ohnmachts-Verstrickungen zu befreien, kann aber auch für TherapeutInnen eine Hilfe sein, eigene Allmachts- oder Rettungsfantasien gegenüber ihren KlientInnen abzubauen und der Eigen-Macht der von ihnen abhängigen und bedürftigen Menschen zu vertrauen.

So gesehen, ist "Macht" eine Geschichte, zu deren Realität diejenigen beitragen, die an sie glauben. Für mich ist das systemische Denken gerade in dieser Frage sehr bedeutsam geworden. Denn im Alltag hilft es mir enorm, mich in keiner noch so schwierigen Lage als ohnmächtig sehen zu müssen, sondern immer mich zu ermahnen, mir die Situation anders zu "erzählen", so daß ich wieder einen Ausweg finde. Denn nur wenn wir "Macht" für real halten, ist sie es auch!

Für die Therapie hat die systemische Perspektive noch einige andere Konsequenzen, auf die ich hinweisen möchte. Wir können (oder müssen) den Versuch aufgeben, eine Unterscheidung zwischen "richtigem" oder "falschem", zwischen "gesundem" oder "krankem" Verhalten verbindlich machen zu wollen. Denn für jedes Verhalten kann ein Kontext gefunden werden, in dem das "falsche" zum "richtigen" oder das "kranke" zum "gesunden" (und umgekehrt) wird. Alle diese Entweder-Oder-Unterscheidungen werden zu Sowohl-Als-Auch-"Geschichten", die sich verändern, wenn wir sie anders erzählen.

Wie schon gesagt, ist es nun das Ziel der Therapie, dem/r KlientIn einen Kontext (eine Geschichte) zu finden, in dem er/sie das bisherige "kranke" Verhalten als "gesund" erleben kann. Die Suche nach solchen Geschichten ist damit immer ressourcenorientiert. Das Problem, mit dem der/die KlientIn in die Therapie kam, sollte tunlichst gar nicht mehr zur Sprache kommen, in keine weitere Geschichte eingehen!

Auch Sie als TherapeutInnen können sich nun leichter auf die Suche nach Ihren eigenen Ressourcen machen. Kreativität, dynamische, rhythmische Lebendigkeit durch Neuerzählen unserer Geschichte befreit von starrer Gebundenheit an fixe Konzepte. Für viele von uns ist das zunächst ungewohnt oder gar bedrohlich. Doch wenn wir einmal auf dem Weg sind, dann - das ist meine Erfahrung - gibt es kein Zurück mehr. An die Stelle der Sicherheit der Erwartungen tritt Neugier auf die nächste Geschichte, die schon morgen mein Ich sein kann. Ein einmal eingenommener Standpunkt wechselt ab mit Standpunktlosigkeit, die aber schon im nächsten Moment zu einem neuen, veränderten Standpunkt führt. Die eigene Identität "verflüssigt" sich, wird flexibel. Ich bin bereit, von mir und über mich selbst überrascht zu werden.

Wenn wir dann noch das Glück haben, in unserem Umfeld mit Menschen zu tun zu haben, die mit uns unsere Geschichten teilen und weitererzählen, und an deren Geschichten wir teilhaben dürfen, dann wird das Pendeln zwischen Verbindlichkeit und Beliebigkeit in unserer Interaktionen zu einer lustvollen Herausforderung. Um dem burn-out zu entgehen, kann man sich sogar die therapeutische Arbeit so "erzählen"!.

Auch die therapeutische Situation wird zu einer Geschichte, von der niemand den Ausgang voraussagen kann. Neugier und Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, sind die angemessene Haltung des/der TherapeutIn. Es ist gleichzeitig eine Haltung des Respekts vor der Person der/r KlientIn und ihrer besonderer "Geschichte". Der Ansatz des "Reflecting Team", den Tom Anderson mit seinen Mitarbeitern entwickelte und der in Deutschland vielerorts aufgegriffen wurde, hat mich unter diesem Aspekt besonders beeindruckt.

Sehr wichtig ist auch, daß sich "Erfolg" oder "Mißerfolg" einer Therapie nicht mehr messen lassen, weil auch der Erfolg in einem anderen Kontext als Mißerfolg erscheinen kann oder der Mißerfolg als ein Erfolg betrachtet werden kann. Wer sich das systemische Denken zueigen macht, gibt den Machbarkeitsanspruch und das Perfektionsmusstreben auf und läßt Raum für so etwas wie Bescheidenheit oder Demut und für die Anerkennung der Tatsache, daß Therapie - wie alle anderen menschlichen Interaktionen - in ihrem Ausgang nicht voraussehbar ist, wir uns also dem Unbekannten, Nichtvorhersagbaren anheimgeben müssen.

Lassen Sie mich nun noch kurz auf die Frage der Ethik und der Geschlechterbeziehungen in der Therapie eingehen. Auch hierzu zunächst ein Zitat von Sigmund Freud:

"(Der Arzt) muß das Ziel im Auge behalten, daß das in seiner Liebesfähigkeit durch infantile Fixierungen behinderte Weib (ihre Liebesfähigkeit) ... nicht in der Kur verausgabe, sondern sie fürs reale Leben bereithalte ... Ich will nicht behaupten, daß es dem Arzte immer leicht wird, sich innerhalb der ihm von Ethik und Technik vorgeschriebenen Schranken zu halten. Besonders der jüngere und noch nicht fest gebundene Mann mag die Aufgabe als eine harte empfinden. ... Anderseits ist es eine peinliche Rolle für den Mann, den Abweisenden und Versagenden zu spielen, wenn das Weib um Liebe wirbt, und von einer edlen Frau, die sich zu ihrer Leidenschaft bekennt, geht trotz Neurose und Widerstand ein unvergleichbarer Zauber aus." (Freud 1915, S. 228-9, Hervorhebungen MK)

Hier wird vom Therapeuten ein ethisch verbindliches Verhalten gefordert, dem wir auch heute ohne weiteres zustimmen können: Ein Therapeut soll keine sexuelle Beziehung mit seiner Klientin eingehen, auch wenn es ihm noch so schwerfällt.

Aber betrachten wir einmal diese Geschichte, die uns Freud erzählt, und von der ich sicher bin, daß sie aus seiner eigenen Erfahrung stammt, aus der Perspektive der Frau. Sie hat sich in ihren Therapeuten verliebt, weil er ein so wunderbarer Mann ist, wie sie noch nie einen kennengelernt hat. Außerdem ist er auch noch der berühmte Freud - also welche Frau bleibt da immun!

Sie spürt, daß auch sie ihm nicht gleichgültig ist. Also macht sie einen Versuch, ihn zu verführen. Nehmen wir an, daß ihre Probleme, die sie in die Therapie brachten, mit demselben Thema, also mit einer Geschichte von sexuellem Übergriff zu tun haben, so daß sie nun bereits einen kreativen Schritt tut, die Situation umzudrehen, indem sie selbst aktiv wird.

Freud aber "spielt den Abweisenden und Versagenden", obwohl er sich von ihrem "unvergleichbaren Zauber" sehr angezogen fühlt. Er zwingt sich, in ihr die Kranke, Neurotische und Widerstand-Leistende zu sehen, was ihm schwerfällt. Jedoch: Aus diesem "Triebverzicht", den er sich auferlegt, kann er sich zu einem ethisch höherstehenden Menschen stilisieren (s. das Zitat am Anfang).

Wie geht ihre gemeinsame Geschichte weiter? Sie nimmt wahr, wie sehr er sich zwingen muß, ihrer wachsenden Leidenschaft zu widerstehen. Er bleibt standhaft, deutet alles, was sie sagt und tut, als Projektionen, als Übertragung, verleugnet seine eigenen Gefühle ihr gegenüber. Sie spürt das, aber resigniert irgendwann und übernimmt seine "Geschichte", auch wenn sie ihrer eigenen widerspricht, oder aber schafft es, die Therapie abzubrechen und ihre eigene Geschichte zu retten.

Freud war unfähig, seine extrem patriarchalen Bilder vom Mann-Sein und Frau-Sein zu reflektieren, sich also selbst zum Beobachter seiner Therapie zu machen. Er war auch unfähig, sich in die Geschichte seiner Klientin hineinzuversetzen und seine "Ethik des Triebverzichts" mit ihrer "Ethik der Aufrichtigkeit der Gefühle" zu verbinden.

Zum mindesten wäre es dringend notwendig gewesen, daß Freud sich einer Supervision unterzogen hätte, um seine Gefühle für diese Klientin zu klären und eventuell - wenn sie zu heftig waren - die Therapie mit ihr abzubrechen.

Dieses Beispiel habe ich bewußt gewählt, um Ihnen als ZuhörerInnen eine zeitliche und soziale Distanz zu ermöglichen. Ich bitte Sie jedoch sehr ernsthaft, darüber nachzudenken, wieweit diese "Geschichte" auch für unsere Zeit und für Sie als TherapeutInnen - vielleicht auch als KlientInnen - relevant ist.

Ich habe nämlich den Eindruck, daß die Geschlechtszugehörigkeit von KlientIn und TherapeutIn auch heute noch nicht ausreichend reflektiert wird, und daß gerade in Fragen der therapeutischen Ethik eine einseitig männliche Sicht dominiert. Die Einbeziehung der weiblichen Sicht erscheint mir unabdingbar, denn ethische Maßstäbe verschieben sich, wenn wir bewußt beide Geschlechter in den Blick nehmen.

Eine systemisch-konstruktivistische Perspektive ist - so scheint es mir - weitaus mehr als eine neue therapeutische Technik. Sie ist eine ethische Grundhaltung mit weitreichenden Konsequenzen für TherapeutInnen und KlientInnen.

Wer sie sich zueigen macht und bereit ist, den Bogen zwischen Verbindlichkeit und Beliebigkeit der eigenen ethischen Grundsätze auszuhalten, dem/der kann sie viel Gewinn bringen. Denn vergessen wir nicht: "Verbindlichkeit" hat mit Verbindung, mit Verbundenheit zu tun und in "Beliebigkeit" lese/höre ich das Wort "Liebe".

Literatur

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