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Vortrag
an der Universität Freiburg 1983
Veröffentlichung: "Freiburger Universitätsblätter"
1983
Erweiterte Fassung (unveröffentlicht): 2 Vorträge im Rahmen der
Frankfurter Psychoanalytischen Freitagsrunde der VHS Frankfurt/Main 1993.
Freud und sein Vater
1. Familiendynamische Hintergründe der Psychoanalyse
2. Die Revision der Verführungstheorie und die Frage sexueller Übergriffe
Marianne
Krüll
Einleitung
Was hat Sigmund Freuds
Herkunftsfamilie mit der Frage sexueller Übergriffe zu tun, wie sie
heute und in seiner Zeit traurige Realität sind/waren? Freud hat
in seiner Zeit sehr Wesentliches über sexuelle Übergriffe und
ihre Folgen für die Betroffenen gesagt und geschrieben. Seine Theorie
der Neurosen-Entstehung, die er vor der Jahrhundertwende entwickelte,
stellte diese Zusammenhänge eindeutig fest. Er hatte sie in seiner
Praxis als Nervenarzt bei vielen seiner Patientinnen gesehen, die von
Vätern, Onkeln, Brüdern mißbraucht worden waren und dann
später an hysterischen Symptomen erkrankt waren.
Doch bestand seine
Erkenntnisquelle nicht nur in den Erlebnissen, die ihm seine PatientInnen
berichteten, auch in seiner eigenen Familie gab es sexuelle Übergriffe,
wie er seinem Freund Wilhelm Fließ schrieb:
"Leider ist
mein eigener Vater einer von den Perversen gewesen und hat die Hysterie
meines Bruders (dessen Zustände sämtlich Identifizierungen
sind) und einiger jüngerer Schwestern verschuldet." (MK S.
82, 8.2.1897, Freud 1986 S. 245)
Was er damit meinte,
will ich im ersten Teil aufzuzeigen versuchen. Im zweiten Teil werde ich
darstellen, daß und warum Freud die frühe, sogenannte "Verführungstheorie",
die er bis 1897 vertrat, aufgab und stattdessen eine Theorie entwickelte
- die uns allen bekannte Ödipus-Theorie -, nach der reale sexuelle
Übergriffe nicht immer Ursache für spätere psychische Erkrankungen
darstellen müssen. Vielmehr behauptete er nunmehr, daß auch
bloße Fantasien der Kinder zu schweren Störungen führen
können, also daß keine realen traumatischen Erlebnisse von
sexueller Gewalt stattgefunden haben müßten.
Im ersten Teil soll
es also darum gehen, was Freud selbst als Kind und Heranwachsender erlebt
hat, was die "Perversion" seines Vaters gewesen sein könnte.
Freuds Theorie war nämlich gleichsam der Versuch, sich Ereignisse,
die er selbst als Kind erlebt hatte, und die ihn bis in sein Erwachsenenleben
hinein verfolgten, verständlich zu machen. Das Thema der "Verführung",
des sexuellen Mißbrauchs oder Übergriffs war ohne Frage für
ihn selbst von höchst persönlicher Relevanz. (Ich bevorzuge
den Begriff "Übergriff", weil "Mißbrauch"
die Assoziation zuläßt, als sei der "Ge-brauch" von
Kindern zulässig und nur der "Miß-brauch" zu verwerfen!)
Lassen Sie mich zuvor
noch kurz erläutern, wie ich selbst dazu kam, mich diesen Fragen
zuzuwenden. Ich bin Soziologin mit dem Schwerpunkt meiner Forschungs-
und Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Familiensoziologie und Sozialisationsforschung.
Ich kenne Freuds Schriften seit meinen Studienzeiten, war aber immer ein
wenig irritiert, welche Vorstellungen er sich über die kindliche
Sexualentwicklung machte. Vor allem störte mich, was er über
die sexuellen Fantasien von kleinen Mädchen schrieb. Nichts davon
entsprach meinen eigenen Kindheitsfantasien: Ich hatte nie vermeint, einen
Penis besessen zu haben, der mir abgeschnitten wurde! Dennoch war die
Faszination, die seine Theorie - vor allem die Theorie des Unbewußten
- auf mich ausübte, sehr groß.
Mein Interesse an
Freuds Familiengeschichte wurde Ende der 60er Jahre geweckt, als ich die
Briefe las, die er seinem Freund Wilhelm Fließ in den Jahren zwischen
1887 und 1902 geschrieben hatte. Diese Briefe enthalten sehr persönliche
Berichte über seine Träume, Fantasien, über sein Familienleben,
seine Krankheiten - aber vor allem auch theoretische Gedanken, kurze und
längere Manuskripte, Fallbeschreibungen von Patienten -, so daß
man als LeserIn genau verfolgen kann, wie sich Freuds Gedanken im Zusammenspiel
mit seinem persönlichen Leben entwickelten, vor allem, wie sehr sie
mit seiner eigenen Kindheit verknüpft waren.
Ich beschloß,
einen kleinen Aufsatz über die psycho-sozio-historischen Zusammenhänge
der Entstehung der Psychoanalyse zu schreiben - es wurde daraus ein dickes
Buch, das 1979 erschien (erweiterte Neuausgabe 1992, Übersetzungen
ins Englische, Französische, Italienische und Japanische).
Die Fließ-Briefe
waren mir damals übrigens nur in der - von Freuds Tochter Anna und
den beiden anderen Herausgebern - gekürzten Ausgabe zugänglich.
Inzwischen liegt die vollständige Briefesammlung vor, die - wie ich
später darlegen werde -, Freuds dramatische Auseinandersetzung mit
seiner eigenen Vergangenheit in dieser Zeit der Entstehung der Psychoanalyse
noch eindrücklicher als in der früheren, "zensierten"
Ausgabe belegt. Übrigens sind durch die neuen Briefe meine Thesen
voll bestätigt worden.
Für mein Buch
habe ich auch selbst recherchiert, war in Freuds Geburtsort Freiberg in
der damaligen CSSR, habe in Archiven in Wien teilweise unbekanntes Material
entdeckt, habe mit vielen Freud-Forschern in der ganzen Welt Kontakt aufgenommen.
Meine Ausgangsfrage
war, was Freud bewog, seine "Verführungstheorie" just zu
dem Zeitpunkt aufzugeben, als sein Vater 1896 mit 81 Jahren starb. Aus
den Fließ-Briefen geht hervor, daß dieser Tod ihn in eine
tiefe Krise gestürzt hatte, die - so schien es - in direktem Zusammenhang
mit dem Widerruf der Verführungstheorie stand. Es schien, als habe
ihn plötzlich der Mut verlassen, weiterhin die frühkindlichen
Erfahrungen sexueller Übergriffe bei seinen PatientInnen als Realität
ernst zu nehmen, weil er bei sich selbst in seiner Familie auf solche
Vorkommnisse gestoßen war. Die "Pietät" gegenüber
dem verstorbenen Vater - so drückte er sich selbst später einmal
aus - verbot es ihm, in seiner Familie weiterzuforschen.
Ich fragte mich also,
was denn konkret in Freuds Herkunftsfamilie geschehen sein konnte, welche
Formen des sexuellen Übergriffs er auf einmal verheimlichen mußte.
Was ich gefunden habe, was Freud also mit der "Perversion" seines
Vater gemeint hatte, ist für unsere heutigen Begriffe eigentlich
recht harmlos. Erwarten Sie also keine sensationellen Geschichten über
sexuelle Gewalt in Freuds Herkunftsfamilie.
Um zu verstehen,
weshalb die Vorkommnisse dennoch für Freud traumatisierend und prägend
waren, müssen wir uns in die Welt Judentums in Österreich in
der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückversetzen, in der Freud lebte.
Wir müssen sogar noch weiter zurückgehen in die Zeit, als sein
Vater Jakob in Galizien - heute Ukraine - im orthodox-jüdischen Milieu
heranwuchs, dort eine Familie gründete und als Wanderjude den weiten
Weg bis nach Mähren und Wien mehrmals im Jahr zurücklegte und
dann kurz vor Sigmunds Geburt den Sprung in das aufgeklärte Assimilationsjudentum
wagte. Die Spannungen, die sich hieraus für das Kind Sigmund ergaben,
können wir nur erahnen. (Viele Menschen, die sich heute in unseren
westlichen Ländern als weitgehend ungewünschte Fremde heimisch
zu machen versuchen, sind in einer ähnlichen Lage!)
Lassen Sie sich also
dazu verführen, mit mir eine Reise in die Vergangenheit zu machen.
Sie führt zunächst nach Tysmenitz, der Geburtsstadt Jakobs in
Galizien.
Teil 1: Familiendynamische
Hintergründe der Psychoanalyse
1815, als Jakob geboren
wurde, hatte Tysmenitz ca. 6000 Einwohner, davon etwa 35 % Juden. Die
Stadt war ein Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit, denn sie beherbergte
eine Jeschiwa, eine Talmud-Hochschule. Die Juden in Tysmenitz waren vorwiegend
Händler, die Geschäftsverbindungen zu den großen Märkten
von Breslau, Leipzig und in die westlichen Gebiete Österreichs aufrechterhielten.
Man weiß nichts
über Jakobs Kindheit und Jugend in Tysmenitz. Will man sich dennoch
ein Bild davon machen, wie er aufwuchs, muß man sich an allgemeine
Beschreibungen des Lebens in kleinen jüdischen "Städtls"
des Ostens halten.
Das Städtl war
eine vollständig autonome Gemeinde. Die Juden hatten zwar geschäftlich
Kontakt mit Nicht-Juden, dennoch war ihr Leben völlig getrennt von
dem der polnischen oder ukrainischen Bevölkerung ringsum, von der
sie mit viel Mißtrauen betrachtet wurden. Denn die Juden hatten
andere Bräuche, feierten andere Feste, heiligten nicht einmal den
Sonntag, sondern den Sabbat am Samstag. Und auch die Juden mußten
aufgrund ihrer Bräuche den sozialen Kontakt mit Nicht-Juden meiden.
So waren sie beispielsweise durch die Speisevorschriften gezwungen, nur
in einem Haus mit "koscherer" Küche zu essen. Ein gläubiger
Jude muß die 613 "Mizvot", die Gesetze, die die Bibel
vorschreibt, einhalten: Speisevorschriften, Gebete, die Sabbat-Gebote,
die Sexualtabus. Durch diese Gesetze ist sein ganzes Leben festgelegt.
Anders als im Christentum dient die Einhaltung der biblischen Gebote nicht
nur dem eigenen Heil, sondern dem ganzen Volk, da die Verheißung
der Ankunft des Messias an die Erfüllung der Gebote durch alle Juden
geknüpft ist.
In der Judengemeinde
hatte der Gelehrte ein besonderes Prestige. Ein Mann, der sich ganz dem
Studium der Tora und des Talmud widmete, wurde von allen hoch geehrt.
Eine Familie opferte alles, damit ein Sohn, der den "Kop" dazu
hatte, ein Gelehrter wurde. Kleine Jungen wurden deshalb schon mit drei
oder vier Jahren in den "Cheder", die Kleinkinderschule geschickt,
wo sie von morgens bis abends die Tora auswendig lernten.
In dieser Welt des
kleinen galizischen Städtl wuchs Kallamon Jakob Freud heran. Sein
Vater Schlomo stammte aus Buczacz, nur wenige Kilometer von Tysmenitz
entfernt.
Seine Mutter war
Pessel (Pepi) Hofmann aus Tysmenitz. Pepis Vater, Siskind Hofmann, war
ein Geschäftspartner von Schlomo Freud. Sie reisten zusammen als
Handelsmänner. Später reiste auch Jakob mit Vater und Großvater.
Es wäre sehr
interessant zu wissen, ob Jakob von seinen Eltern in der Tradition des
orthodoxen Judentums erzogen wurde oder ob er schon als Kind von den modernen
aufgeklärten Formen des Judentums erfuhr. Das orthodoxe Judentum
existierte in zwei Formen: 1. dem traditionellen Rabbinertum, das ganz
darauf ausgerichtet war, die Tradition des Judentums als einer Religion
der Gelehrsamkeit, nämlich des Tora- und Talmud-Studiums hochzuhalten,
2. dem Chassidismus, einer mystischen Bewegung, die das einfache Volk
anzog, später eine sehr einflußreiche Bewegung im Ostjudentum
wurde. Ihr Begründer war der Wunderrabbi Baal Schem Tow, dessen Nachfolger
ebenfalls als wundertätige Rabbis wirkten. Freud bemerkte einmal,
daß sein Vater die ersten 20 Jahre seines Lebens unter dem Einfluß
des Chassidismus verbracht habe, wobei aber unklar bleibt, ob er sich
dieser Bewegung wirklich angeschlossen hatte.
Die dritte große
Geistesströmung war die Haskala, die jüdische Aufklärungsbewegung.
Maskilim, die Anhänger der Haskala, vertraten die volle Emanzipation
und Integration der Juden in das Bürgertum. Maskilim bekämpften
sowohl den Chassidismus als auch das traditionelle Rabbinertum, weil ihrer
Ansicht nach das orthodoxe Judentum die Juden daran hinderte, den Weg
in die Neue Zeit zu gehen. Andererseits sahen orthodoxe Juden in den Maskilim
Verräter des wahren Glaubens und des Volkes Israel. Es ist denkbar,
daß Jakob schon in seiner Jugend mit den Ideen des aufgeklärten
Judentums bekannt gemacht wurde. Denn Vater und Großvater konnten
diese Ideen während ihrer Reisen aufgenommen haben. Auch gab es in
Tysmenitz Vertreter der Haskala. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß
Jakob auch noch in den Cheder ging und eine orthodoxe Bildung erhielt.
Jakob heiratete Sally
Kanner mit nur 16 1/2 Jahren, denn er war 17 1/2, als sein ältester
Sohn Emanuel geboren wurde (1833). 1834 wurde Philipp, der zweite Sohn,
geboren. Mit 23 Jahren begann Jakob, mit seinem Großvater Siskind
Hofmann und seinem Vater Schlomo Freud nach Mähren zu ziehen.
Die 600 km lange
Reise legten sie mit Pferd und Wagen zurück, denn eine Eisenbahnlinie
wurde erst später gebaut. Sie brachten Rohprodukte nach dem Westen
und kehrten mit Fertigwaren, vor allem Textilprodukten, nach Galizien
zurück. Sie reisten wahrscheinlich mit anderen Juden zusammen und
übernachteten in jüdischen, d.h. in koscher geführten Wirtshäusern.
Sie waren jeweils mehrere Monate von Tysmenitz fern.
Selbst wenn Jakob
durch Vater und Großvater schon mit den Ideen der Haskala vertraut
gemacht worden war, so war diese Begegnung mit der Welt außerhalb
des Städtl für ihn gewiß sehr beeindruckend. Vielleicht
boten diese Reisen ihm auch zu erstenmal Gelegenheit, sich der sozialen
Kontrolle durch Familie und Gemeinde zu entziehen, vielleicht war er auf
diesen Reisen sogar gezwungen, einige der jüdischen Gesetze zu brechen.
Aus Dokumenten, die
in den 60er Jahren in der damaligen Tschechslowakei gefunden wurden, geht
hervor, daß Jakob und sein Großvater Siskind Hofmann in Freiberg/Mähren
als "tolerierte" Juden lebten, d.h. sie durften nur eine begrenzte
Zeit in Mähren bleiben und konnten sich nicht niederlassen. Sie hatten
auch große Schwierigkeiten, ihre Pässe verlängert zu bekommen,
wie aus Bittschriften an den Freiberger Magistrat deutlich wird.
Das Jahr 1848 stellte
wahrscheinlich für Jakob eine große Wende dar. Infolge der
Revolution war allen Juden in Österreich das Recht der freien Niederlassung
gewährt worden. Es gibt zwar keinen direkten Beleg dafür, daß
Jakob diese Chance sofort nutzte, um sich in Freiberg/Mähren anzusiedeln,
aber 1852 war er mit einem "Heimatschein" in der Nachbargemeinde
Klogsdorf ansässig, hatte jedoch seine Wohnung in Freiberg selbst.
Diese Angabe stammt
aus einem "Verzeichnis der Juden" der Gemeinde Freiberg, das
noch aus anderem Grunde interessant ist. Es weist nämlich als Jakobs
Ehefrau eine Rebekka auf, die damals (1852) 32 Jahre alt gewesen sein
soll, also nicht Emanuels Mutter sein kann, welche im übrigen ja
auch Sally hieß. Dies ist ein Hinweis darauf, daß Jakob wahrscheinlich
ein zweites Mal verheiratet war, ehe er Freuds Mutter in dritter Ehe zur
Frau nahm. Max Schur, der "Leibarzt" und Biograph Freuds ist
der Meinung, daß Freud in einem seiner Träume auf diese geheimnisvolle
Ehe seines Vaters anspielt:
"Ich erhalte
eine Zuschrift vom Gemeinderat meiner Geburtsstadt, betreffend die Zahlungskosten
für eine Unterbringung im Spital im Jahre 1851, die wegen eines
Anfalls bei mir notwendig war. Ich mache mich darüber lustig, denn
erstens war ich 1851 noch nicht am Leben, zweitens ist mein Vater, auf
den es sich beziehen kann, schon tot. Ich gehe zu ihm ins Nebenzimmer,
wo er auf dem Bette liegt, und erzähle es ihm. Zu meiner Überraschung
erinnert er sich, daß er damals 1851 einmal betrunken war und
eingesperrt oder verwahrt werden mußte. ... Du hast also auch
getrunken, frage ich. Bald darauf hast du geheiratet? Ich rechne, daß
ich ja 1856 geboren bin, was mir als unmittelbar folgend vorkommt."
(Freud: Traumdeutung 1900, S. 421)
Solch eine Szene,
meint Schur, könne tatsächlich zwischen Vater und Sohn stattgefunden
haben, in der nämlich Freud seinen Vater nach jener zweiten Ehe mit
Rebekka gefragt habe, die ja 1851 geschlossen worden sein könnte.
Am 29. Juli 1855
heiratete der 40jährige Jakob die noch nicht 20jährige "Jungfrau"
Amalie Nathansohn in Wien. Ihr Vater Jacob Nathansohn war Handelsagent
in Wien, vielleicht kannten sich die beiden Männer geschäftlich.
Dennoch ist es seltsam, daß Jacob Nathansohn seine Tochter einem
Mann gab, der ihr Vater hätte sein können. Jakob Freud war gewiß
kein reicher Mann, wie aus Dokumenten, die in Freiberg gefunden wurden,
hervorgeht. Ich vermute, daß diese Ehe für Jakob einen Neubeginn
bedeutete, daß er sich damit endgültig von seinen Bindungen
an Familie und Herkunft in Tysmenitz zu lösen trachtete. Auf jeden
Fall war er nunmehr ein Anhänger der Haskala, denn die Ehe wurde
vor dem Reformrabbiner Mannheimer in Wien geschlossen.
In dieser Phase des
Neubeginns starb Jakobs Vater Schlomo in Tysmenitz (21.2.1856). Jakob
war wahrscheinlich nicht beim Begräbnis seines Vaters anwesend, konnte
also auch nicht das Totengebet "Kaddisch" sprechen. Ich habe
die Vermutung, daß dieser Verlust für Jakob ein tiefgehendes
Ereignis war und daß - wie bei Sigmund Freud 40 Jahre später
- der Tod des Vaters in Jakob Schuldgefühle wachrief, mit der Tradition
der Väter gebrochen zu haben. Er war ein Maskil geworden, hatte sich
aus dem orthodoxen Judentum gelöst, hatte auch vielleicht gegen die
strengen Gebote des Glaubens verstoßen auf seinen Reisen oder auch
im Zusammenhang mit seinen beiden Ehen in der Fremde.
Ich stelle mir vor,
daß Jakob aus diesen von mir vermuteten Schuldgefühlen heraus
ein ganz besonders intensives Gefühl für den Sohn empfand, den
Amalie 2 1/2 Monate nach dem Tod Schlomos zur Welt brachte: Sigmund, mit
jüdischem Namen Schlomo. Den Tod des Vaters und die Geburt Sigmunds
trug Jakob auf einem Gedenkblatt in der Bibel ein, die er seit 1848, dem
Jahr der Judenemanzipation, besaß. Von keinem seiner anderen Kinder
hat er die Geburt dort verzeichnet. Ich meine, daß dies ein Zeichen
für die besondere Bedeutung ist, die Sigmund für seinen Vater
hatte.
Sigmund Freud ist
am 6. Mai 1856 in Freiberg/Mähren, damals Österreich, geboren.
Sein Vater war 40, seine Mutter 20 Jahre alt. Die Familie bewohnte ein
Zimmer im Haus des Schlossers Zajíc, das wahrscheinlich noch heute
in fast unveränderter Form existiert. Freud kam als Onkel auf die
Welt, denn sein Neffe John (Jochanan), der Sohn seines Stiefbruders Emanuel
und dessen Frau Maria, war bereits ein Jahr alt. Emanuels Familie wohnte
in einem Haus am Marktplatz, nur wenige Straßen von der Wohnung
des Vaters entfernt. Ein halbes Jahr nach Freuds Geburt wurde seine Nichte
Pauline geboren. Philipp, der zweite Stiefbruder Freuds, der gleichaltrig
mit Amalie war, war unverheiratet und wohnte in einem Haus direkt gegenüber
von Jakobs Haus.
Im Oktober 1857 wurde
Sigmunds Bruder Julius geboren, der dann am 15. April 1858 an "Gedärmentzündung"
starb, als Sigmund also noch nicht ganz zwei Jahre alt war. Freud behauptete
später, daß er diesen Bruder mit "bösen Wünschen
und echter Kindereifersucht" begrüßt habe und bei seinem
Tod sich Vorwürfe machte. (1950, S. 189). Solche Gefühle eines
kleinen Kindes muß man selbstverständlich im Zusammenhang mit
seiner Mutterbeziehung sehen: Amalie hatte einen zwei oder drei Jahre
jüngeren Bruder, der ebenfalls Julius hieß. Genau einen Monat
vor dem Tod ihres Kindes Julius war dieser Bruder Julius an Lungentuberkulose
in Wien gestorben.
Ob sie ihren neugeborenen
Sohn Julius nannte, da schon abzusehen war, daß ihr Bruder sterben
würde? Starb ihr Kind, weil ihr Schmerz über den Tod des Bruders
so groß war, und sie ihn deshalb nicht ausreichend pflegen konnte?
Hat sie mit Panik auf die Erkrankung ihres Kindes reagiert, weil dies
so kurz nach dem Tod ihres Bruders geschah und hat das Kind wegen ihrer
Panik nicht überlebt? - Wie auch immer die Zusammenhänge gewesen
sein mögen, der zweifache Verlust war sicherlich sehr schwer für
sie zu ertragen und hatte deshalb Auswirkungen auf den zweijährigen
Sigmund.
9 1/2 Monate nach
dem Tod von Julius wurde Sigmunds Schwester Anna am 31.12.1858 geboren.
Die Geburt dieser Schwester war für Freud aus mehreren Gründen
traumatisch: Während seine Mutter noch im Wochenbett lag, wurde nämlich
die von Sigmund heißgeliebte Kinderfrau von seinem Halbbruder Philipp
beim Diebstahl ertappt und verschwand plötzlich. Diese Kinderfrau
war Tschechin und katholisch. Sie hatte den kleinen Jungen sehr beeindruckt.
Es scheint so, als sei sie ihm in mancher Beziehung wichtiger gewesen
als die Mutter. Zum mindesten sind Freuds Träume, von denen wir wissen,
voll von Bildern, in denen die Kinderfrau als mütterliche Gestalt
vorkommt, während Amalie kaum in Erscheinung tritt.
Die Kinderfrau war
jemand von der "anderen Seite", sie war anders als die Eltern,
sprach eine andere Sprache, ging in eine Kirche, in die sie ihn mitnahm.
Außerdem war sie "seine Lehrerin in sexuellen Dingen",
wie er in einem Brief an Fließ schreib. Was er damit meinte, können
wir wiederum nur aus einem Traum erahnen. Freud schildert da, wie er,
auf einer Treppe hinaufgehend, von ihr an den Genitalien berührt
wurde, was in ihm - wie er sich erinnerte - erotische Gefühle hervorrief
(1950, S. 179).
Die Kinderfrau, so
meine ich, war für den kleinen Sigmund in zweifacher Weise eine Verführerin:
Sie erotisierte ihn, was bei ihm wahrscheinlich schon früh dazu führte,
daß er masturbierte, wofür er aber von ihr oder von den Eltern
bestraft wurde. Zum anderen "verführte" sie ihn zu einer
positiven emotionalen Haltung gegenüber dem Christentum, der Heiligenverehrung,
den ornamentalen Tendenzen, die dem Judentum so gänzlich fremd sind.
Noch ein anderes,
möglicherweise traumatisches Ereignis war mit Annas Geburt verbunden:
Seltsamerweise hatte der kleine Sigmund die Fantasie, daß sein Bruder
Philipp etwas mit der Entstehung der Schwester Anna zu tun hatte. Freud
erinnerte sich einer Szene, die er folgendermaßen beschrieb:
"Die Mutter
ist nicht zu finden, ich heule wie verzweifelt. Bruder Philipp sperrt
mir einen Kasten auf, und nachdem ich die Mutter auch hierin nicht gefunden,
weine ich noch mehr, bis sie schlank und schön zur Türe hereinkommt.
"(1950, S. 192 f.)
Freud deutete diese
Szene als Angst vor dem Verlust der Mutter, die er wie die kürzlich
wegen des Diebstahls verhaftete Kinderfrau eingesperrt glaubte. Seine
weiteren Assoziationen zu dieser Erinnerung:
"Der Schrank
oder Kasten ist (dem Kind) ein Symbol des Mutterleibes. Es verlangt
also in diesen Kasten zu schauen und wendet sich hierfür an den
großen Bruder, der (...) an Stelle des Vaters zum Rivalen des
Kleinen geworden ist. Gegen diesen Bruder richtet sich (... der)
Verdacht, (...) daß er irgendwie das kürzlich geborene Kind
in den Mutterleib hineinpraktiziert hat." (1901, S. 52 Fn.,
Hervorhebungen MK)
Es gibt auch noch
andere Träume Freuds mit ähnlicher Thematik. Ich habe die Vermutung,
daß Freuds Fantasie über Annas Entstehung nicht ohne einen
realen Hintergrund war, daß vielleicht Amalie tatsächlich für
Philipp mehr als "stiefmütterliche" Gefühle hatte,
daß Philipp in der Tat anstelle des Vaters für den kleinen
Sigmund ein Rivale um die Liebe der Mutter geworden war.
Im Frühjahr
nach diesen, wie ich vermute, aufwühlenden Ereignissen im Zusammenhang
mit Annas Geburt hatte der kleine Sigmund noch ein wichtiges Erlebnis,
das später in seinen Träumen auftauchte. Zusammen mit seinem
um ein Jahr älteren Neffen John scheint er sich für den Unterschied
zwischen kleinen Mädchen und Jungen interessiert zu haben. Da auch
John gerade eine kleine Schwester bekommen hatte (Bertha, geb. 22.2.1859),
könnte man vermuten, daß die beiden Jungen sich darüber
hinaus auch Gedanken über die Herkunft der Babies machten. In dem
Aufsatz "Über Deckerinnerungen", der eindeutig autobiographisches
Material enthält, hat Freud eine Szene beschrieben, in der John und
er mit Johns Schwester Pauline sexuelle Spiele trieben:
"Ich sehe
eine viereckige, etwas abschüssige Wiese, grün und dicht bewachsen;
in dem Grün sehr viele gelbe Blumen, offenbar der gemeine Löwenzahn.
Oberhalb der Wiese ein Bauernhaus, vor dessen Tür zwei Frauen stehen,
die miteinander angelegentlich plaudern, die Bäuerin im Kopftuch
und eine Kinderfrau. Auf der Wiese spielen drei Kinder, eines davon
bin ich (zwischen zwei und drei Jahren alt), die beiden anderen mein
Vetter (Sigmunds Neffe John), der um ein Jahr älter ist, und meine
fast genau gleichaltrige Cousine, seine Schwester (Sigmunds Nichte Pauline).
Wir pflücken die gelben Blumen ab und halten jedes eine Anzahl
von bereits gepflückten in den Händen. Den schönsten
Strauß hat das kleine Mädchen; wir Buben aber fallen wie
auf Verabredung über sie her und entreißen ihr die Blumen.
Sie läuft weinend die Wiese hinauf und bekommt zum Trost von der
Bäuerin ein großes Stück Schwarzbrot. Kaum daß
wir das gesehen haben, werfen wir die Blumen weg, eilen auch zum Haus
und verlangen gleichfalls Brot. Wir bekommen es auch, die Bäuerin
schneidet den Laib mit einem langen Messer. Dieses Brot schmeckt mir
in der Erinnerung so köstlich und damit bricht die Szene ab."
(1899, S. 540f.)
Freud assoziiert
zu diesem Bild: Defloration. Wenn man diese Szene als eine reale ansieht,
dann könnte das heißen, daß die beiden Jungen das Mädchen
gewaltsam entblößt haben. So wie Freud in einer seiner Schriften
die Gefühle eines kleinen Jungen bei er Entdeckung des weiblichen
Genitals beschreibt:
"Die infantile
Sexualforschung beginnt sehr früh, manchmal vor dem dritten Lebensjahr.
(...) Macht der Knabe dann an einer kleinen Schwester oder Gespielin
die Entdeckung der Vagina, so versucht er zuerst das Zeugnis seiner
Sinne zu verleugnen. (...) Später erschrickt er über die ihm
eröffnete Möglichkeit, und etwaige frühere Drohungen
wegen zu intensiver Beschäftigung mit seinem kleinen Glied gelangen
nachträglich zur Wirkung. Er gelangt unter die Herrschaft des Kastrationskomplexes."
(1916-17, S. 313)
Man muß dabei
bedenken, daß die Kastration für einen jüdischen Jungen
eine sehr viel realistischere Bedrohung darstellt als für einen nicht-jüdischen.
Denn die Beschneidung ist selbstverständlich als Brauchtum auch den
Kindern bekannt. Es kann sogar sein, daß der kleine Sigmund bei
der Beschneidung seines Bruders Julius anwesend war, da in Orten ohne
eine Synagoge diese Zeremonie im Elternhaus stattfand.
Das Erlebnis auf
der grünen Wiese scheint jedenfalls für ihn noch bedeutsamer
geworden zu sein durch das große Trauma seiner Kindheit, der Abreise
aus Freiberg. Das genaue Datum der Abreise ist nicht bekannt, es kann
aber nicht lange danach gewesen sein. Jakob reiste mit seiner Familie
und seinen beiden erwachsenen Söhnen zunächst nach Leipzig.
Emanuel mit seiner Familie und Philipp emigrierten dann nach England,
während Jakob mit Frau und Kindern nach Wien ging und sich dort niederließ.
Während der
Eisenbahnfahrt nach Leipzig hatte der kleine Sigmund Angst: Die Gasflammen
auf dem Bahnhof in Breslau erinnerten ihn an "brennende Geister in
der Hölle". Er meinte offenbar, in die Hölle zu reisen
- wie ich vermute, aus Strafe für ein Vergehen, dessen er sich schuldig
fühlte. Denn wie er selbst später in seinen Arbeiten über
kindliche Sexualität ausführte, können die Bewegungen der
Eisenbahn bei einem Kind sexuelle Erregung auslösen, was wegen der
Kastrationsdrohung jedoch Schuldgefühle wecken muß. Daß
seine Schuldgefühle sich an das Bild einer Höllenfahrt knüpften,
hängt sicher auch mit seinen Erfahrungen mit der Kinderfrau zusammen,
denn die Hölle gibt es in der jüdischen Symbolik nicht.
Ich glaube allerdings,
daß dies nicht der einzige Grund war, weshalb der Dreijährige
seine erste Eisenbahnfahrt nicht genoß, sondern Angst hatte. Ich
habe den Eindruck, daß Jakob und die anderen Erwachsenen voller
Aufruhr waren, weil die Schatten der Vergangenheit Jakob eingeholt hatten.
Freud gab selbst an, daß Jakobs Geschäft eine ungünstige
Wendung nahm (Brief an Silberstein 9.9.1875), und dies die Abreise notwendig
machte. Man hat deshalb auf eine Wirtschaftskrise in Freiberg geschlossen,
wofür es jedoch keine Belege gibt. Wahrscheinlich hat Jakob also
aus persönlichem Versagen sein Handelsgeschäft aufgeben müssen.
Warum aber ging Jakob
nicht mit Emanuel und Philipp nach Manchester, wo die beiden sich offenbar
relativ schnell geschäftlich etablierten, sondern zog nach Wien,
wo er überhaupt nicht reüssierte, vielmehr von der Unterstützung
durch die Familie seiner Frau seine bald neunköpfige Familie ernähren
mußte? Wenn man meiner Vermutung folgt, daß zwischen Amalie
und Philipp eine unerlaubte Beziehung bestand, dann kann Jakob sich von
seinen beiden Söhnen getrennt haben, um diese Beziehung zu zerstören.
Wurde Philipp verbannt und sollte Emanuel, der offensichtlich zuverlässigere
Sohn, über seinen Bruder wachen?
Es gibt noch andere
mögliche Gründe für die Abreise aus Freiberg, die in ähnlicher
Weise vermuten lassen, daß die Erwachsenen unter Spannungen standen.
Das würde erklären, weshalb dieses traumatische Erlebnis Freud
noch bis in sein Erwachsenen-Alter verfolgte und er zeitlebens unter einer
Eisenbahnphobie litt.
In Wien lebte die
Familie Jakob Freuds in ärmlichen Verhältnissen in der Leopoldstadt,
dem Stadtteil mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung
(17 % um die Jahrhundertmitte, 31 % gegen Ende des 19. Jahrhunderts).
Die Freuds gehörten
zu den Armen. In vielen Briefen Freuds noch aus seiner Studienzeit ist
die Rede davon, daß er, der selbst kein Einkommen hatte, seine Eltern
und Geschwister unterstützen mußte. Jakob hat offenbar nie
geschäftlich in Wien Fuß gefaßt. Er wird zwar in allen
Unterlagen als Wollhändler bezeichnet, hat aber nie Steuern bezahlt,
also entweder sehr wenig eingenommen oder aber gar keinen richtigen Handel
mehr geführt. Auch gesundheitlich ging es den Freuds nicht gut. Amalie
war an einer leichten Form von Tuberkulose erkrankt und hielt sich in
den Jahren von 1857 bis 1875 mehrfach zur Kur in den Karpaten auf. Freuds
Schwester Anna erwähnt in ihren Memoiren, daß die Kinder während
diese Zeiten von Amalies Eltern versorgt wurden.
Für den kleinen
Sigmund war der Umzug nach Wien sicher ein schockartiges Erlebnis. Nicht
nur der äußerliche Wechsel der Umgebung - vom kleinstädtischen
Freiberg mit seiner tschechischen Bevölkerung in das proletarische
Milieu der übervölkerten Leopoldstadt mit ihrem hektischen Treiben
- sondern vor allem die Veränderung seiner wichtigsten Bezugspersonen
dürfte für ihn ein entscheidendes Erlebnis gewesen sein. Zunächst
einmal hatte er statt der drei "Mütter" in Freiberg (Amalie,
die Kinderfrau und Marie, die Mutter von John, Pauline und Bertha) nunmehr
nur noch eine. Auch die drei "Väter" (Jakob, Emanuel und
Philipp) hatten sich auf einen reduziert. Die Spielgefährten waren
verschwunden, dafür kamen immer mehr Schwestern zur Welt, insgesamt
fünf, bis, 1866, also zehn Jahre nach seiner Geburt, der jüngste
Bruder Alexander geboren wurde.
Aber auch seine Eltern
hatten sich in seinen Augen verändert. Die Mutter war im Kreise ihrer
Verwandten sicher eine andere als damals in Freiberg, wo die 20jährige
Frau offenbar niemanden aus der eigenen Verwandtschaft in der Nähe
hatte. In Wien lebten dagegen ihre Eltern und mehrere Verwandte, die sie
unterstützten. Der Vater war in Sigmunds Augen von einem überdimensionalen
Patriarchen, dem Herrscher über die eigenen Familie und über
die seiner erwachsenen Söhne, zu einem Bittsteller herabgesunken,
der nicht einmal seine eigene Frau und Kinder ernähren konnte.
Was könnte Freud
nun aber gemeint haben, als er seinen Vater "pervers" nannte
und ihm die Schuld für die "Hysterie" seines Bruders und
seiner Schwestern zuschrieb (s. Zitat oben)? "Pervers" war für
ihn ein Ausdruck für sexuelle Übergriffe verschiedenster Art
seitens männlicher Personen, die er bei seinen PatientInnen aus deren
Kindheit rekonstruieren konnte. Vermutete er oder wußte er gar von
sexuellen Übergriffen seines Vater bei seinen Schwestern und dem
Bruder? Von seinem Bruder Alexander meinte er in Briefen an Fließ,
daß er "ein sehr gequälter Neurastheniker" (16.8.1895)
sei und vielleicht etwas von "seiner einstigen Infektion schlummernd"
(17.9.1899, MK S.: 244) in sich trage. Wie und womit soll sich Alexander
"infiziert" haben? Vermutete er einen Zusammenhang zwischen
dieser "Infektion" und der "Perversion" des Vaters?
Freuds fünf
Schwestern - die bis auf Anna als alte Frauen in Vernichtungslagern der
Nazis umgekommen sind -, wissen wir wenig. Anna, Rosa, Mitzi und Paula
heirateten und hatten Kinder. Dolfi blieb unverheiratet bei der Mutter
bis zu deren Tod. Von Mitzi, die "immer isoliert" war und "ein
sonderbares Wesen" hatte, vermutete er, daß ihr Mann "nicht
unschuldig" sei an der "Hysterie" der drei Töchter
(27.4.1898, MK S. 106).
Freud beabsichtigte,
einen nicht überlieferten "Großen Traum", den er
"bis zum Grunde analysiert" hatte, in die "Traumdeutung"
aufzunehmen, gab dies aber auf Anraten seines Freundes Fließ auf.
In diesem Traum sind - das lassen seine Andeutungen vermuten - Themen
enthalten gewesen, die auf seine sexuellen Erlebnisse in Wien und in Freiberg
zurückgingen.
So müssen wir
uns mit den vagen Hinweisen auf konkrete Vorkommnisse von sexuellen Übergriffen
in Freuds Herkunftsfamilie zufriedengeben. Es ist zu erwarten, daß
in den noch unveröffentlichten Familienbriefen und anderen Dokumenten
die noch immer bis über das Jahr 2000 hinaus im Archiv der Library
of Congress in Washington gesperrt sind, weitere Auskünfte enthalten
sind. Bis dahin müssen wir uns mit den wenigen Hinweisen begnügen,
die Freud in seine Schriften eingebracht hat. Eine solche Szene aus der
frühen Wiener Zeit handelt davon, daß er selbst mit seiner
Schwester Anna etwas Verbotenes tat:
"Mein Vater
machte sich einmal den Scherz, mir und meiner ältesten Schwester
ein Buch mit farbigen Tafeln (...) zur Vernichtung zu überlassen.
Es war erziehlich kaum zu rechtfertigen. Ich war damals fünf Jahre,
die Schwester unter drei Jahren alt, und das Bild, wie wir Kinder überselig
dieses Buch zerpflücken (wie eine Artischocke, Blatt für Blatt,
muß ich sagen), ist nahezu das einzige, was mir aus diese Lebenszeit
in plastischer Erinnerung geblieben ist. Als ich dann Student wurde,
entwickelte sich bei mir eine ausgesprochene Vorliebe, Bücher zu
sammeln und zu besitzen (...). Ich habe diese erste Leidenschaft meines
Lebens, seitdem ich über mich nachdenke, immer auf diesen Kindereindruck
zurückgeführt, oder vielmehr, ich habe erkannt, daß
diese Kinderszene eine 'Deckerinnerung' für meine spätere
Bibliophilie ist. (Vgl. meinen Aufsatz 'Über Deckerinnerungen'.)
Natürlich habe ich auch frühzeitig erfahren, daß man
durch Leidenschaften leicht in Leiden gerät." (Traumdeutung
1900a, S. 185f.)
Freuds eigener Rückverweis
auf die in der "Deckerinnerung" geschilderte Szene auf der Löwenzahnwiese
in Freiberg und viele weitere Assoziationen zu dieser Kindheitserinnerung,
lassen auch andere Autoren (Grinstein) vermuten, daß der Fünfjährige
mit der Schwester Anna in Wien nicht nur das Buch "wie eine Blüte
zerpflückt", also "defloriert" (!) hat, sondern hier
noch einmal an Anna seine Untersuchung der Genitalien eines Mädchens
wiederholte, um seine ungestillte Neugier nach dem Unterschied zwischen
Mädchen und Jungen zu befriedigen.
Wie ich später
darstellen werde, scheint Freud diese Suche auch als Erwachsener nicht
überwunden gehabt zu haben. Seine Be- (oder besser:) Miß-Handlung
von Emma Eckstein (s. Teil 2) weist überdeutliche Beziehungen zu
diesen Kindheitserlebnissen auf. Ja, man könnte sagen, daß
die gesamte Entwicklung seiner Theorie der kindlichen Sexualität
letztlich auf dieser von ihm als Kind unbeantwortet gebliebenen Suche
gegründet ist.
Als Kind in Wien
löste Freud seine Konflikte, indem er sich zu einem Musterknaben
entwickelte. (In seiner Theorie der kindlichen Sexualentwicklung: Die
Latenz-Phase.) Ich glaube, das Erlebnis, den Vater schwach zu sehen, war
für den kleinen Sigmund der entscheidende Anstoß, jenen enormen
Ehrgeiz zu entwickeln, der Freuds weiteres Leben bestimmte. Mir scheint,
als habe er hier in Wien erstmals den Auftrag verstanden, der hieß,
es besser zu machen als der Vater. Dieser Auftrag war allerdings ambivalent,
da er zugleich das Gebot enthielt, die Schwäche des Vaters nicht
zu sehen. Jakob, so scheint es, konnte immer schwächer, immer hilfloser
und "perverser" (was immer Freud damit meinte!) werden, weil
- oder besser - damit Sigmund zu immer größerem Glanz
heranwuchs. Sigmund, so kann man vermuten, begrub seinen berechtigten
Zorn auf den unfähigen Vater, weil dieser ihn mehr als sich selbst
liebte, ihn zum Delegierten seiner eigenen unerfüllten Wünsche
aufbaute. In Freuds eigenen Worten:
"Es muß
so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit gebracht zu
haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist etwas dabei, was unrecht,
was von alters her verboten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am
Vater zu tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkindliche
Überschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es sieht
aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es weiter zu bringen
als der Vater, und als wäre es noch immer unerlaubt, den Vater
übertreffen zu wollen." (1936, S. 292)
Freud wurde ein Musterkind.
Vor allem in der Schule brillierte er. Obwohl er nie in die Grundschule
ging, war er im Gymnasium immer einer der besten oder sogar Primus seiner
Klasse. Anna Freud Bernays berichtet, daß Amalie ihm Unterricht
gab. Sein Vater las mit ihm die Bibel. Schon mit sieben Jahren konnte
Freud anscheinend allein lesen. Jakob besaß ein Exemplar der Philippsonschen
Bibel, einer Bibel des aufgeklärten Judentums. Sie war bebildert,
kommentiert und zweisprachig, hebräisch und deutsch. Die gemeinsame
Bibellektüre scheint für beide eine sehr befriedigende Beschäftigung
gewesen zu sein. Vielleicht bemerkte Jakob in diesem Zusammenhang zum
erstenmal, daß er die Interessen seines Sohnes auf geistige Dinge
lenken konnte, daß Sigmund versprach, ein Gelehrter zu werden. Sigmund
erlebte dabei, welche Bedeutung er für den Vater hatte. Vielleicht
erlebte er auch, daß es gut war, ein Jude zu sein, den "Gojim",
den Nicht-Juden gerade in bezug auf intellektuelle Fähigkeiten überlegen
zu sein.
Einige Geschichten
aus der Bibel haben beide wahrscheinlich mit besonderer Aufmerksamkeit
gelesen, weil sie so viele Parallelen zu ihrer eigenen Geschichte aufweisen.
Dazu gehörte zweifellos die Geschichte von Jakob und seinen Söhnen.
Mit Josef, dem liebsten Sohn Jakobs hat sich Freud immer identifiziert.
Wie Josef war er seinem Vater "im Alter" geboren worden; wie
Josef war er ehrlich und gescheit; wie Josef wurde er ein Traumdeuter
und mußte in ein fremdes Land, Ägypten, das für Freud
in vieler Beziehung ein Symbol für die "andere Seite",
für die nicht-jüdische Welt darstellte, in die er aufgenommen
werden wollte; wie Josef gelangte er in "Ägypten" zu hohem
Ansehen und konnte seinem alten Vater ein Leben im Wohlstand verschaffen.
Vor allem aber war Josef ein Sohn, der seinen Vater nicht nach dessen
Vorleben fragte oder dieses ihm gar zum Vorwurf machte. Denn der Jakob
der Bibel hatte sich mehrfach versündigt - dem Bruder Esau gegenüber,
dem er das Erstgeburtsrecht abgekauft hatte, dem Schwiegervater Laban
gegenüber und auch seinem liebsten Sohn Josef gegenüber, den
er schutzlos mit den haßerfüllten Halbbrüdern ziehen ließ,
die ihn dann in den Brunnen warfen.
Aber nicht nur die
Geschichten aus der Bibel waren dem Kind Sigmund ein Erlebnis, auch die
Bilder der Philippsonschen Bibel. Diese Bibel ist mit 685 Holzschnitten
illustriert, die Landschaften, Tiere, Pflanzen des Mittelmeerraums zeigen,
sowie viele Darstellungen aus dem Leben anderer Völker. Besonders
die Bilder von ägyptischen Göttern scheinen ihn beeindruckt
zu haben, denn sie tauchten nicht nur in Freuds Träumen als Erwachsener
wieder auf, sondern scheinen auch seine Sammelleidenschaft bestimmt zu
haben. Diese Abbildungen ägyptischer Götter finden sich in der
Philippsonschen Bibel gehäuft als Illustrationen zu Textstellen,
in denen das Judentum mit seiner Ablehnung bildlicher Darstellungen Gottes
als Zeichen seiner Auserwähltheit hervorgehoben wird und die "Götzenverehrung"
der anderen Religionen als minderwertiger dargestellt wird. Wenn wir davon
ausgehen, daß Jakob noch im orthodoxen Milieu aufgewachsen ist,
bzw. ein Assimilationsjude der ersten Generation war, dann müssen
diese Passagen in der Bibel für ihn besonders konfliktträchtig
gewesen sein, mahnten sie ihn doch daran, daß er selbst die heiligen
Gebote gebrochen hatte.
Sigmund Freud hat
später seine Räume in der Berggasse 19 mit unzähligen kleinen
und größeren Statuetten gefüllt, die zum Teil mit den
in der Philippsonschen Bibel abgebildeten Göttern mit Vogelköpfen
identisch waren. War seine Verehrung der "fremden" Götter
nicht eine Provokation des Gottes der Väter? Erfüllte er also
in diesem Sinne den Auftrag seines Vaters zur Opposition gegen die orthodoxe
jüdische Tradition? Oder beschwor er damit eher den Schutz der neuen
Götter vor der Strafe des alten Judengottes, so als sei die alte
Kinderfrau wieder aufgestanden, die ihn in die Kirchen mitnahm und ihn
die Anbetung der Heiligen-Figuren lehrte?
Daß Freud solche
Ängste hatte und daß sie eng mit seiner archäologischen
Sammelleidenschaft, wie auch mit der "Verehrung fremder Götter"
zusammenhingen, wissen wir. Es gelang ihm nur schwer, dem Fluch des Gottes
der Väter zu trotzen und nach Rom, der Stadt der Päpste, zu
fahren. Auch seine Depersonalisationserfahrung beim Besuch der Akropolis
in Athen im Jahre 1904, die ja ein "Götzentempel" nicht
nur der Griechen, sondern auch des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts
darstellt, könnte man als Zeichen für seine Furcht vor der Strafe
ansehen, die ihm vom alten Judengott drohte (1940, S. 202f., und 1936).
Vor allem aber war seine Auseinandersetzung mit der Figur des Moses geprägt
von dieser Ambivalenz. - Im zweiten Teil werde ich darauf im Detail eingehen.
Kehren wir noch
einmal zurück zu Freuds Jugend. Die Themen, die ihn in der Kindheit
in Freiberg und Wien bedrängten, scheinen auch seine eigene Sexualentwicklung
beeinträchtigt zu haben. Denn, wie er in dem Aufsatz "Über
Deckerinnerungen" schildert, stand seine erste, unerfüllt
gebliebene Liebe unter dem Zeichen seiner unbewältigten Vergangenheit
in Freiberg und Wien. 1871, als 15-Jähriger, kehrte Freud in seine
Geburtsstadt Freiberg zurück. Gisela Fluß, die er in Briefen
an seinen damaligen Schulfreund Eduard Silberstein "Ichthyosaura"
(Fluß-Echse) nannte, war die Tochter eines jüdischen Geschäftsfreundes,
der mit seiner Familie nicht wie Jakob Freud nach Wien gegangen war,
sondern in Freiberg als Textilfabrikant ein erfolgreicher Geschäftsmann
geworden war. Freud schrieb:
"Ich war siebzehn
Jahre alt, und in der gastlichen Familie war eine 15jährige Tochter,
in die ich mich sofort verliebte. Es war meine erste Schwärmerei,
intensiv genug, aber vollkommen geheim gehalten. (...) Ich erging mich
viele Stunden lang in einsamen Spaziergängen durch die wiedergefundenen
herrlichen Wälder mit dem Aufbau von Luftschlössern beschäftigt,
die seltsamerweise nicht in die Zukunft strebten, sondern die Vergangenheit
zu verbessern suchten. (...) wenn ich in der Heimat geblieben wäre
(...) wenn ich den Beruf des Vaters fortgesetzt hätte und endlich
das Mädchen geheiratet, das ja, all die Jahre über, mir hatte
vertraut werden müssen! (...) ich kann mich genau erinnern, wie
lange nachher die gelbe Farbe des Kleides, das sie beim ersten Zusammentreffen
trug, auf mich gewirkt, wenn ich dieselbe Farbe irgendwo wieder sah."
(1899a, S. 543, MK S. 251)
Gelb waren auch die
Löwenzahnblüten in der Szene zwölf Jahre zuvor in Freiberg!
Seine Gefühle für Gisela weckten also vermutlich in ihm Schuldgefühle
aus der frühen Kindheit. Er selbst schrieb in seinem Kommentar:
"Einem Mädchen
die Blume wegnehmen, das heißt ja: deflorieren. Welch ein Gegensatz
zwischen der Frechheit dieser Phantasie und meiner Schüchternheit
bei der ersten (...) Gelegenheit. (...) Das Verlockendste an dem ganzen
Thema ist für den nichtsnutzigen Jüngling die Vorstellung
der Brautnacht. (...) Diese Vorstellung wagt sich aber nicht ans Licht,
(...) So bleibt sie unbewußt." (1899a, S. 546, MK S. 252)
Und an anderer Stelle
verbindet er solche unerlaubten Fantasien mit der Onanie, unter der er
zweifellos auch als Erwachsener litt, weil er sie für schädlich,
für krankmachend hielt. Sexuelle Fantasien haben, so meinte er:
"(...) wenn
sie nicht rasch vorüberziehen, keinen anderen Ausweg, als sich
in Phantasien auszuleben, welche die Sexualbetätigung der Mutter
unter den mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte haben, deren
Spannung auch besonders leicht zur Lösung im onanistischen Akte
führt. (...) die eifrig geübte Onanie der Pubertätsjahre
hat ihren Beitrag zur Fixierung jener Phantasien geleistet." (1910h,
S. 192f., MK S. 252, vgl. auch S. 344 Anm. 29)
Daß Freud hier
(ebenso wie an anderen Stellen) auch davon spricht, Pubertierende würden
ihrer Mutter unerlaubte Sexualbeziehungen zuschreiben, ist Hinweis darauf,
daß auch der junge Sigmund solche Gedanken hatte, die - wie ich
vermute - auf reale Erlebnisse in Freiberg (Amalie und Philipp) zurückgehen.
Teil 2:
Die Revision der Verführungstheorie und die Frage sexueller Übergriffe
Bis vor wenigen Jahren
stimmten die Biographen Freuds mit ihm darin überein, daß die
Aufgabe der Verführungstheorie seine große Leistung war, die
die eigentliche Begründung der Psychoanalyse ermöglichte. Und
in der Tat entstand unmittelbar nach dem "Widerruf" das auch
in Freuds Augen bedeutendste seiner Werke, die "Traumdeutung"
(1900a), das der Psychoanalyse den Durchbruch verschaffte. Doch mehren
sich seit einiger Zeit die Stimmen, die den Wert der Verführungstheorie
für sehr viel höher einschätzen und es bedauern, daß
er sie aufgab. (Alice Miller, Jeffrey M. Masson)
Zum Zeitpunkt der
Krise, die zur Aufgabe der Verführungstheorie führte, war Freud
40 Jahre alt, seit 10 Jahren verheiratet und Vater von 6 Kindern. Die
Tochter Anna war 1895 als letztes Kind geboren. Beruflich und wissenschaftlich
hatte er eigentlich eine akademische Laufbahn als Neurophysiologe geplant.
Nachdem er sich jedoch 1882 mit seiner späteren Frau Martha Bernays
verlobt hatte, beschloß er, eine Arztpraxis aufzumachen. Dazu suchte
er in einer Wiener Krankenhaus klinische Erfahrung und war auch in der
psychiatrischen Abteilung tätig, wo er zum erstenmal Patienten behandelt.
Seine Studienreise nach Paris zu Jean Martin Charcot brachte Freud in
Kontakt mit dessen Suggestionsmethode bei hysterischen Patientinnen, die
ihn sehr beeindruckte.
Sein Freund und Gönner,
der Wiener Nervenarzt Heinrich Breuer, machte ihn mit einer neuartigen
Behandlung hysterischer PatientInnen bekannt, der "kathartischen"
Methode. Breuer hatte eine Patientin, die vielzitierte Anna O. (Bertha
Pappenheim) in Hypnose versetzt und sie frühkindliche Erlebnisse
erinnern lassen, wodurch ihre teilweise sehr schweren Symptome verschwanden.
(Obwohl sie als erste psychoanalytisch behandelte Patientin in die Geschichte
eingegangen ist, war sie nie Freuds Patientin.) Freud entwickelte diese
Methode dann weiter, indem er die hypnotische Suggestion aufgab und das
freie Assoziieren, sowie die Träume seiner PatientInnen als Form
der Rückerinnerung frühkindlicher Erlebnisse anwendete.
In dieser Zeit unterschied
Freud zwei große Gruppen von psychischen Störungen, für
die er nicht nur unterschiedliche Ursachen, sondern auch unterschiedliche
Heilungsmöglichkeiten annahm. In der psychoanalytischen Literatur
werden diese beiden theoretischen Ansätze oft nicht klar unterschieden,
was zu Verwirrungen Anlaß gibt und auch die unterschiedliche Relevanz
beider Theorien für Freud selbst nicht klar erkennen läßt.
Die eine Gruppe umfaßte
die von ihm so genannten "Abwehrneurosen", dazu gehören
vor allem die Hysterie und die Zwangsneurose (heute wohl vorwiegend als
Borderline oder Schizophrenie diagnostiziert). Hier vermutete er als Ursache
frühkindliche sexuelle "Verführungen". Die Therapie
war hier die Rückerinnerung der frühen Traumatisierungen, wodurch
die Symptome manchmal schlagartig verschwanden. Ich komme darauf noch
zurück.
Die Aktualneurose
Die andere
Gruppe waren die sogenannten "Aktualneurosen". Hier vermutete
Freud als Ursache bestimmte aktuelle Sexualpraktiken wie Onanie, Enthaltsamkeit,
sowie "unnormale" Sexualpraktiken wie Coitus interruptus (für
Männer und Frauen machte er hier Unterschiede). Symptome waren Neurasthenien
(Kopfschmerz, Nervenreizungen) und Angstneurosen (Herzarrhythmien, Atembeschwerden
usw., verbunden mit Angstzuständen). Eine Heilung der Aktualneurosen
erschien ihm nur möglich, wenn "normaler" und regelmäßiger
Geschlechtsverkehr stattfinden konnte. Eine Psychotherapie sei hier nicht
möglich, weil sie "nicht psychisch determiniert ..., sondern
als direkte toxische Folgen des gestörten Sexualchemismus aufgefaßt
werden müssen." (So noch 1925 in seiner "Selbstdarstellung",
S. 57.)
Es ist nun sehr aufschlußreich
zu wissen, daß Freud selbst unter den Symptomen der "Aktualneurosen"
litt. "Neurasthenische" Symptome hatte er, wie aus Briefen hervorgeht,
offenbar schon als junger Mann. Eine "Angstneurose", nämlich
schwere Herzbeschwerden, Atemnot machten ihm in den Jahren 1893/94 zu
schaffen. Auch litt er an einer "Eisenbahnphobie", was ihn zwar
nicht am Reisen hinderte, doch erwähnt er seine Ängste in vielen
Briefen an Fließ.
Prüfen wir nach,
wie es um Freuds Sexualleben in jener Zeit bestellt war, das ja - nach
der Theorie der "Aktualneurosen" - Ursache für seine eigenen
Beschwerden sein müßte: Obwohl seine Briefe an Fließ
sehr freimütig sind, finden sich auch in der ungekürzten Ausgabe
keine Hinweise darauf, daß Freud unter einem Drang zu onanieren
litt. Doch kann man aus vielen Äußerungen schließen,
daß dies für ihn ein Problem war, etwa wenn er, der Kettenraucher,
schrieb, daß die Onanie "eine Ursucht" sei, "als
deren Ersatz und Ablösung erst die anderen Süchte nach Alkohol,
Morphin, Tabak etc. ins Leben treten." (1986, S. 313, MK S. 45)
Sicher ist auch,
daß Freud in jenen Jahren mit seiner Frau Konzeptionsverhütung,
und zwar vermutlich Abstinenz, praktizierte. Das letzte Kind, Anna (geb.
1895) ist, wie aus einem Brief an Fließ hervorgeht, nicht mehr gewollt.
Später schrieb er: "Die sexuelle Erregung ist für einen
wie mich nicht mehr zu brauchen" (1897) oder: "mit dem Kinderzeugen
bin ich fertig" (1900), "die Ehe ist längst amortisiert,
jetzt gibt es nichts mehr als - Sterben" (1911) (MK S. 44). In einer
theoretischen Arbeit aus dieser Zeit schrieb er, wie ich vermute aus eigener
Erfahrung:
"Erkundigt
man sich (...) nach Anzahl und Reihenfolge der Kinder und stellt diese
Ehechronik dem (...) Verlauf der Neurose gegenüber, so ergibt sich
(...), daß die Perioden von Besserung oder Wohlbefinden mit den
Graviditäten der Frau zusammenfallen, während welcher natürlich
der Anlaß für den Präventivverkehr entfallen war."
(1895, MK S. 43)
Wenn Freud also,
wie es scheint, seine eigenen angstneurotischen und neurasthenischen Symptome
auf seine "unnormalen" Sexualpraktiken (Onanie, infolge von
Abstinenz als Verhütungsform) zurückführte, gab es für
ihn nach seiner eigenen Theorie keine Hoffnung. Denn wenn er keine Kinder
mehr wollte, sich aber auch nicht moralisch herabwürdigen und außerehelichen
Sexualverkehr suchen wollte, dann mußte er mit seinen "aktualneurotischen"
Symptomen leben. Er hatte eine Theorie entwickelt, der er sich auch jede
Hoffnung auf psychotherapeutische Hilfe nahm. Es sei nur nebenbei bemerkt,
daß Freuds Theorie der Aktualneurosen eine extrem männliche
Sicht widerspiegelt. Wie seine Frau Martha die Enthaltsamkeit erlebte,
was ihre sexuellen Wünsche waren, scheint ihm keinen Gedanken wert
gewesen zu sein.
Allerdings glaubte
Freud zum mindesten eine Zeitlang doch an eine Heilung von seiner Aktualneurose.
Sein Freund Fließ hatte nämlich eine noch weitgehendere Sexualtheorie
und -therapie entwickelt, indem er die Nase als Sexualorgan betrachtete.
Freud ließ sich von Fließ an der Nase operieren, um von seinen
Symptomen befreit zu werden. Doch machten sie ihre Experimente nicht nur
aneinander, sondern auch an einer Patientin Freuds, die an der Operation
fast gestorben wäre. Ich erwähne die Geschichte hier vor allem,
um auf die Parallelen hinzuweisen, die dieses Ereignis mit einem frühkindlichen
Erlebnis des kleinen Sigmund in seinem Geburtsort Freiberg aufweist, von
dem ich im ersten Teil berichtete.
Emma Eckstein war
eine junge Frau, die an verschiedenen, von Freud als neurasthenisch diagnostizierten
Symptomen litt. Fließ kam nach Wien und operierte sie an der Nase,
da nach seiner Theorie vaginale Störungen sich auf die Nase übertrugen.
Die Operation verlief problemlos, doch nach 14 Tagen stellte sich heraus,
daß er in der Wunde ein 50 cm langes Stück Gaze vergessen hatte.
Die junge Frau war an der Infektion und der notwendig gewordenen zweiten
Operation durch einen anderen Arzt fast gestorben. Es dauerte noch Wochen,
bis sie wiederhergestellt war.
Diese Episode war
Anlaß für Freuds "Irma-Traum", dem meist-analysierten
Muster-Traum für alle Psychoanalytiker. Bis zur Veröffentlichung
der vollständigen Sammlung der Fließ-Briefe wußte niemand,
daß diesem Traum das reale Erlebnis mit Emma Eckstein zugrundelag,
weil die entsprechenden Briefe nicht enthalten waren. Auch Freud hat die
Emma-Episode verschwiegen und nicht in die Deutung des Traumes einbezogen.
Noch weniger hat er uns den Schlüssel gegeben, diese Geschichte mit
seiner frühkindlichen Szene auf der Löwenzahnwiese in Freiberg
zu verknüpfen. Damals hatte er als Dreijähriger mit seinem um
ein Jahr älteren Neffen John an dessen Schwester Pauline ebenfalls
"herumexperimentiert", um zu erfahren, daß kleine Mädchen
keinen Penis haben. Ich glaube, wir gehen nicht fehl anzunehmen, daß
Freud hier - vor allem in bezug auf seine Gefühle des Erschreckens
und der Schuld - eine Wiederholungshandlung erlebte.
Es ist erschreckend,
wie Freud in den nächsten Wochen seinen Freund in Schutz nahm, und
ihn sogar von jeder Schuld zu entlasten versuchte, indem er Emma als Hysterikerin
und ihre Blutung als "hysterische Blutung" bezeichnete. Dennoch
hatte die Freundschaft von da an einen Bruch. Freud wandte sich nun verstärkt
seiner Theorie der Abwehrneurosen, eben der "Verführungstheorie"
zu, mit der Fließ wenig anzufangen wußte.
Die "Abwehrneurosen"
und Freuds "Verführungstheorie"
Freud behauptete,
daß Menschen die an hysterischen, zwangsneurotischen oder paranoiden
Symptomen litten, im Kindesalter von Erwachsenen sexuell mißbraucht
worden waren. Die Symptome seien, so meinte er, eine "Abwehr"
der Erinnerung an die Erlebnisse, deshalb eben die Bezeichnung "Abwehrneurosen".
In seiner ausführlichsten Darstellung der Verführungstheorie,
dem Aufsatz "Zur Ätiologie der Hysterie " (Mai 1896) bezog
er sich auf 18 PatientInnen, bei denen er eine solche Verführung
angetroffen hatte:
"In sämtlichen
achtzehn Fällen (...) bin ich (...) zur Kenntnis solcher sexueller
Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann meine Fälle in drei
Gruppen bringen, je nach der Herkunft der sexuellen Reizung.
In der ersten Gruppe handelt es sich um Attentate, einmaligen oder doch
vereinzelten Mißbrauch meist weiblicher Kinder von seiten Erwachsener,
fremder Individuen (...), wobei die Einwilligung der Kinder nicht in
Frage kam und als nächste Folge des Erlebnisses der Schrecken überwog.
Eine zweite Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle, in denen
eine das Kind wartende erwachsene Person - Kindermädchen, Kindsfrau,
Gouvernante, Lehrer, leider auch allzu häufig ein naher Verwandter
- das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein - auch nach
der seelischen Richtung ausgebildetes - förmliches Liebesverhältnis,
oft durch Jahre, mit ihm unterhielt.
In die dritte Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhältnisse,
sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern verschiedenen Geschlechtes,
zumeist zwischen Geschwistern, die oft über die Pubertät hinaus
fortgesetzt werden und die nachhaltigsten Folgen für das betreffende
Paar mit sich bringen. (...) Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern
vorlag, gelang nun einige Male der Nachweis, daß der Knabe - der
auch hier die aggressive Rolle spielt - vorher von einer erwachsenen
weiblichen Person verführt worden war (...) Ich bin daher geneigt
anzunehmen, daß ohne vorherige Verführung Kinder den Weg
zu Akten sexueller Aggression nicht zu finden vermögen." (1896,
S. 68, MK S. 68)
Freud betonte dabei,
daß es nicht die Tatsache der Verführung allein sei, die zur
späteren Neurose führe, sondern daß die Erlebnisse immer
verdrängt worden waren und dann aus dem Unbewußten wirkten.
Die Symptome treten meist zum erstenmal auf in einer Situation, die für
den/die Betroffene/n irgendwelche Parallelen mit der ursprünglichen
Verführungsszene aufweist, die aber ansonsten den jeweils empfundenen
Affekt keinesfalls rechtfertigt.
So geriet z.B. eine
von Freuds Patientinnen erstmalig in einem Kaufmannsladen in Panik, als
ihr der Verkäufer freundlich zulächelte. Sie konnte daraufhin
keine Läden mehr betreten. Freud fand heraus, daß die Frau
als Kind mehrfach von einem Kaufmann in dessen Laden an den Genitalien
berührt worden war, wobei der Mann gegrinst hatte. Sie konnte dieses
Erlebnis aber nie jemandem mitteilen, es wurde verdrängt und produzierte
aus dem Unbewußten heraus das Symptom. Immer, so meinte Freud, war
das Kind von dem Erwachsenen, der es verführte, in irgendeiner Weise
abhängig.
"(...) der
Erwachsene, der (...) mit aller Autorität und dem Rechte der Züchtigung
ausgerüstet ist und zur ungehemmten Befriedigung seiner Launen
die eine Rolle mit der anderen vertauscht; das Kind, dieser Willkür
in seiner Hilflosigkeit preisgegeben, vorzeitig zu allen Empfindlichkeiten
erweckt und allen Enttäuschungen ausgesetzt, (...) alle diese grotesken
und doch tragischen Mißverhältnisse prägen sich in der
ferneren Entwicklung des Individuums und seiner Neurose in einer Unzahl
von Daueraffekten aus, die der eingehendsten Verfolgung würdig
wären." (1896, S. 75, MK S. 69)
Diese Verführungstheorie,
so meinte Freud, sei eine Antwort auf alle seine Fragen. Im Frühjahr
1896 war er überzeugt, Hysterie und Zwangsneurosen definitiv heilen
zu können. Denn die Bewußtmachung des Primärerlebnisses
mit dem dazugehörigen Affekt hatte bei seinen PatientInnen die Symptome
zum Verschwinden gebracht.
Mitte Juni 1896 erkrankte
Freuds Vater und es war bald klar, daß er im Sterben lag. Kurz danach
schrieb Freud an Fließ in einem Ton, als hätte er schon von
seinem Vater Abschied genommen:
"Der Zustand
des Alten deprimiert mich übrigens nicht. Ich gönne ihm die
wohlverdiente Ruhe, wie er sie selbst wünscht. Er war ein interessanter
Mensch, innerlich sehr glücklich; er leidet jetzt sehr wenig, löscht
mit Anstand und Würde aus." (1986, S. 206, MK S. 73)
Doch als Jakob am
23.Oktober 1896 gestorben war, schrieb er:
"Auf irgendeinem
der dunkeln Wege hinter dem offiziellen Bewußtsein hat mich der
Tod des Alten sehr ergriffen. Ich hatte ihn sehr geschätzt, sehr
genau verstanden, und er hatte viel in meinem Leben gemacht, mit der
ihm eigenen Mischung von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn.
Er war lange ausgelebt, als er starb, aber im Innern ist wohl alles
Frühere bei diesem Anlaß aufgewacht. Ich habe nun ein recht
entwurzeltes Gefühl." (ebda.)
In der Nacht nach
dem Begräbnis hatte Freud dann einen Traum, der mir den Schlüssel
für das Verständnis seiner Vaterbeziehung zu liefern scheint:
"Einen netten
Traum muß ich Dir erzählen von der Nacht nach dem Begräbnis:
Ich war in einem Lokal und las dort eine Tafel:
Es wird gebeten
die Augen zuzudrücken
Das Lokal erkannte ich gleich als den Friseurladen, den ich täglich
besuche. Am Tage des Begräbnisses mußte ich dort warten und
kam darum etwas später ins Trauerhaus. Meine Familie (...) nahm
(...) mir die Verspätung etwas übel. Der Satz auf der Tafel
ist doppelsinnig und heißt nach beiden Richtungen: Man soll seine
Pflicht gegen den Toten erfüllen. (Entschuldigung, als ob ich's
nicht getan hätte und Nachsicht brauchte - die Pflicht wörtlich
genommen.) Der Traum ist also ein Ausfluß jener Neigung zum Selbstvorwurf,
die sich regelmälßig bei den Überlebenden einstellt."
(1986, 213f., MK S. 74)
Dieser Traum ist
neben seiner buchstäblichen Bedeutung: einem Toten die letzte Ehre
zu erweisen, offensichtlich auch Ausdruck eines Schuldgefühls Freuds
wegen seiner Fluchttendenzen, die sich im Zuspätkommen äußerten.
Bezeichnenderweise hat er den Traum in der "Traumdeutung" anders
wiedergegeben: Er behauptete, ihn vor dem Begräbnis geträumt
zu haben, brauchte also seine Schuldgefühle wegen des Zuspätkommens
nicht zu erwähnen!
Eine viel tiefere
Bedeutung des Traumes scheint Freud aber selbst nicht erkannt zu haben.
Ich meine, daß er sich mit diesem Traum an einen "Auftrag"
des Vaters erinnerte, der hieß, "die Augen zuzudrücken",
nämlich bestimmte Dinge im Leben des Vaters nicht wahrzunehmen. Ich
glaube, daß Freuds theoretische Interessen jener Zeit, die ja intensiv
um die Verführungstheorie kreisten, in ihm Ängste wachgerufen
hatten, gegen jenes Verbot Jakobs zu verstoßen. Jetzt, als der Vater
gestorben war und so viel in ihm aufgerührt worden war, erschein
ihm im Traum die Tafel mit der eindringlichen Aufschrift, um ihn vor einer
Übertretung des Verbots zu warnen.
Worum es bei diesem
Verbot ging, was Jakob von ihm forderte, habe ich in Teil I dargestellt.
Es ging um zwei große Themen: Die Sexualität und die Autorität.
Sigmund scheint seinem Vater Jakob sowohl in bezug auf dessen Sexualität
Vorwürfe gemacht zu haben (s. das Zitat am Anfang), als auch gespürt
zu haben, daß Jakobs Hinwendung zum modernen Assimilationsjudentum
ein Verrat am Glauben der Väter war, dessen er sich schuldig fühlte.
Auf einige Aspekte werde ich noch zu sprechen kommen.
In den nun folgenden
Monaten, von Oktober 1896 bis September 1897 kämpfte Freud um seine
Verführungstheorie, wie wir sehen werden, vergeblich. Er publizierte
nichts mehr dazu. Es war wie ein einsames Ringen, über das er nur
seinem Freund Fließ gegenüber Rechenschaft ablegte. Bei seinen
Patienten fand er immer eindeutigere Bestätigungen dafür, daß
die Verführungen tatsächlich stattgefunden hatten. Ein männlicher
Patient war von seinem Onkel sexuell verführt worden, hatte dann
seine Schwester mißbraucht, die vorher bei den Szenen mit dem Onkel
zugegen gewesen war und später psychotisch wurde. Die eigenen Kinder
des Patienten aus zwei Ehen zeigten verschiedenste neurotische Symptome.
Freud folgerte: "Du kannst daraus entnehmen, wie sich die Neurose
in der nächsten Generation zur Psychose steigert." (11.1.1897,
MK S. 79)
Im April berichtete
er Fließ von einer Patientin, die ihm gestand, zwischen ihrem 8.
und 12. Lebensjahr regelmäßig von ihrem Vaters ins Bett genommen
und "äußerlich gebraucht" worden zu sein, wobei sie
Angst hatte. Auch einer Schwester sei gleiches geschehen, und von einer
Kusine wußte sie, daß sie sich der "Umarmung des Großvaters
zu erwehren hatte." (28.4.1897 MK 79) Die Herausgeber der Erstausgabe
der Fließ-Briefe haben uns auch diese Berichte von Fällen aus
seiner Praxis vorenthalten, offenbar mit der Absicht, Freuds damalige
feste Überzeugung von der Realität und der weiten Verbreitung
sexueller Gewalt gegen Kinder - vor allem Mädchen - zu vertuschen.
Auch aus anderen
Quellen suchte Freud Bestätigung für seine Verführungstheorie:
Er interessierte sich für die mittelalterlichen Theorien der Besessenheit
und meinte, Parallelen zwischen den Geständnissen der Hexen und denen
seiner PatientInnen zu finden. In beiden Fällen ging es um sexuelle
Verführungen. Auch die Verfolgung der Hexen durch die Inquisitoren
wies seiner Ansicht nach Ähnlichkeit mit den Bestrafungstendenzen
seiner PatientInnen auf. Nicht selten nämlich stachen sie sich mit
Nadeln oder ließen sich "die Brüste zerschinden".
Immer waren die Betreffenden von ihren Vergewaltigern auch mit Nadeln
traktiert worden. Bei den Foltermethoden der Inquisitoren, so meinte Freud,
"stechen die Inquisitoren wieder mit Nadeln, und (...) den Opfern
fällt (...) die alte grausame Geschichte ein. So erinnerten sich
dabei nicht nur die Opfer, sondern auch die Henker an ihre erste Jugend."
(17.1.1897 MK S. 80) Er besorgte sich den "malleus maleficarum",
den Hexenhammer der Inquisition und meinte, die "strenge Therapie
der Hexenrichter" zu begreifen. Im Mai formulierte er überdeutlich,
wie er sich die Fantasiebildung vorstellte:
"Die Phantasien
sind nämlich psychische Vorbauten, die aufgeführt werden,
um den Zugang zu diesen Erinnerungen zu sperren. Die Phantasien dienen
gleichzeitig der Tendenz, die Erinnerungen zu verfeinern, zu sublimieren.
Sie sind hergestellt mittels der Dinge, die gehört werden und nachträglich
verwertet, und kombinieren so Erlebtes und Gehörtes, Vergangenes
(aus der Geschichte der Eltern und Voreltern) mit Selbstgesehenem."
(1986, S. 255, MK S. 83)
Fantasien, so meinte
er, dienen also der Selbstentlastung und der Blockierung der Erinnerung
an das erschreckende Erlebnis. Es ist für das Kind dann möglich,
nur noch an die Fantasie zu denken. Allerdings können auch die Fantasien
bedrohlich werden, was dazu führt, Symptome zu entwickeln, die dann
auf die ursprüngliche Szene zurückgreifen. Ohne daß es
ihm selbst bewußt war, steuerten Freuds Überlegungen darauf
zu, sich selbst und seine Familie in die Betrachtung mit einzubeziehen.
Im Februar 1897 verdächtigte er seinen Vater - wie schon erwähnt
- der "Perversion", die bei seinen Geschwistern zur "Hysterie"
geführt habe.
In dieser Zeit begann
er auch seine Selbstanalyse. Er berichtete Fließ von eindeutig "verführerischen"
Träumen, in denen er "einen Vater als Urheber der Neurose zu
ertappen" suchte. Anfang Juni 1897 hatte Freud eine Phase geistiger
und wohl auch psycho-motorischer Lähmung. Er konnte nicht mehr schreiben
und fühlte, daß er "irgend etwas Neurotisches, komische
Zustände, Dämmergedanken, Schleierzweifel" durchmachte,
er meinte "in einer Puppenhülle " zu sein, "weiß
Gott, was für ein Vieh da herauskriecht." (22.6.1897, MK S.
90) Seinen Zustand nannte er jetzt "Hysterie", deren "Analyse
schwerer als irgendeine andere" sei (14.8.1897). D.h. er hatte nun
begonnen, seine neurotischen Symptome nicht mehr als Aktualneurose zu
deuten, sondern als Abwehrneurose, für die Kindheitserlebnisse und
nicht gegenwärtige Sexualpraktiken die Ursache waren. Mir scheint,
daß die geistige und physische Lähmung, die ihn während
des Sommers plagte, Ausdruck für seine Hemmung war, die "Perversion"
seines Vaters wirklich zu erkennen. Durch seine Selbstanalyse kam er dem
Geheimnis Jakobs immer näher, deshalb mußte sein Unbewußtes
mit immer größerer Kraft gegen die drohende Aufdeckung ankämpfen.
Der Widerruf der
Verführungstheorie
Ende August brach
Freud nach Italien auf. Auf dieser Reise faßte er den Entschluß,
die Verführungstheorie aufzugeben, also die Abwehrneurosen - und
das hieß auch seine eigenen neurotischen Beschwerden - nicht mehr
auf frühkindliche Verführungserlebnisse zurückzuführen.
Der Brief, den er am 21. September 1897 an Fließ schrieb, ist ein
einzigartiges Dokument, das uns über Freuds Gründe für
seinen Widerruf Aufschluß gibt:
"Ich will
also historisch beginnen, woher die Motive zum Unglauben gekommen sind.
Die fortgesetzten Enttäuschungen bei den Versuchen, eine Analyse
zum wirklichen Abschluß zu bringen, (...) das Ausbleiben der vollen
Erfolge, auf die ich gerechnet hatte (...). Dann die Überraschung,
daß in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte, mein eigener nicht ausgeschlossen, die Einsicht
in die nicht erwartete Häufigkeit der Hysterie (...), während
doch solche Verbreitung der Perversion gegen Kinder wenig wahrscheinlich
ist. (...) Dann (...) die sichere Einsicht, daß es im Unbewußten
ein Realitätszeichen nicht gibt, so daß man die Wahrheit
und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann. (Demnach
blieb die Lösung übrig, daß die sexuelle Phantasie sich
regelmäßig des Themas der Eltern bemächtigt.)
(...) Soweit beeinflußt
wurde ich bereit, auf zweierlei zu verzichten, auf die völlige
Lösung einer Neurose und auf die sichere Kenntnis ihrer Ätiologie
in der Kindheit. (...) Es erscheint wieder diskutierbar, daß erst
spätere Erlebnisse den Anstoß zu Phantasien geben, die auf
die Kindheit zurückgreifen, und damit gewinnt der Faktor einer
hereditären Disposition einen Machtbereich zurück, aus dem
ihn zu verdrängen ich mir zur Aufgabe gestellt hatte." (1986,
S.283 ff., MK S. 92ff.)
Man kann alle von
Freud genannten Gründe mit seinen eigenen, bis dahin von ihm vertretenen
Ansichten widerlegen. Mir scheint daher, daß der eigentliche Grund
der Satz war: "Mein Vater nicht ausgeschlossen"! (Dieser Satz
ist bezeichnenderweise in der Erstausgabe der Fließ-Briefe weggelassen
worden!) Freud gab auf, in seiner eigenen Kindheit nach Erlebnissen zu
forschen, da er das Tabu Jakobs nicht brechen durfte, das ihm in dem Traum
am Tag vor dem Begräbnis von seinem eigenen Unbewußten so eindringlich
präsentiert worden war. Nach dem Widerruf wurde Freud geradezu überschwemmt
von Träumen, die alle in seine Kindheit in Freiberg zurückreichten:
"Ich kann
nur andeuten, daß bei mir der Alte keine aktive Rolle spielt,
daß (...) meine 'Urheberin' ein häßliches, älteres,
aber kluges Weib war, das mir viel vom lieben Gott und von der Hölle
erzählt und mir eine hohe Meinung von meinen eigenen Fähigkeiten
beigebracht hat; (...) Daß ich meinen 1 Jahr jüngeren Bruder
(der mit wenigen Monaten gestorben) mit bösen Wünschen und
echter Kindereifersucht begrüßt hatte, und daß von
seinem Tode der Keim zu Vorwürfen in mir geblieben ist. Auch den
Genossen meiner Untaten zwischen 1-2 Jahren kenne ich, es ist ein um
1 Jahr älterer Neffe (...).Mit der um 1 Jahr jüngeren Nichte
scheinen wir beide gelegentlich grausam umgegangen zu sein. Dieser Neffe
und dieser jüngere Bruder bestimmen nun das Neurotische, aber auch
das Intensive an allen meinen Freundschaften. (...)"
"Sie (die
Kinderfrau, MK) war meine Lehrerin in sexuellen Dingen und hat geschimpft,
weil ich ungeschickt war, nichts gekonnt habe. (...) Der ganze Traum
war voll der kränkendsten Anspielungen auf mein heutiges Unvermögen
als Therapeut. Die Neigung, an die Unheilbarkeit der Hysterie zu glauben,
fängt vielleicht hier an. Außerdem hat sie mich mit rötlichem
Wasser gewaschen, in dem sie sich früher gewaschen hatte (...),
und mich veranlaßt, 'Zehner' wegzunehmen, um sie ihr zu geben."
(1986, S. 288ff., MK S. 97ff.)
Als er von "dem
älteren Weib" träumte, wußte er nichts von ihrer
realen Existenz. Eine Nachfrage bei seiner Mutter ergab, daß es
eine solche Kinderfrau tatsächlich gegeben hatte, daß diese
gestohlen hatte und dafür ins Gefängnis gekommen war. Alle anderen
Traum-Bilder aus der Freiberger Zeit entsprachen ebenfalls voll der Realität.
Freud hatte also eigentlich mit diesen Träumen seine gerade abgelegte
Verführungstheorie bestätigt bekommen. Es waren dies keine Fantasien,
sondern reale Ereignisse, die sich in seinem Unbewußten gespeichert
hatten und im Traum als Bilder auftauchten. Doch in demselben Brief, in
dem er Fließ von seinen aufschlußreichen Träumen berichtete,
tauchte die Ödipus-Theorie zum erstenmal auf:
"Ich habe
die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch
bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis
früher Kindheit (...). Wenn das so ist, so versteht man die
packende Macht des Königs Ödipus (...). Die griechische Sage
greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz
in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus und vor
der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert
jeder zurück (...) (1986, S. 293, Hervorh. MK, MK S. 101).
Nicht mehr ein reales
Erlebnis, sondern ein fantasierter Wunsch, den jeder Mensch (wohlgemerkt:
jeder männliche Mensch!) hat, wird verdrängt und läßt
eine Neurose entstehen - so seine neue Theorie. Hören wir noch einmal
ihn selbst zu diesem theoretischen Wandel:
"(Es galt),
einen Irrtum zu überwinden, der für die junge Forschung fast
verhängnisvoll geworden wäre. Unter dem Einfluß der
(...) traumatischen Theorie der Hysterie war man leicht geneigt, Berichte
der Kranken für real und ätiologisch bedeutsam zu halten,
welche ihre Symptome auf passive sexuelle Erlebnisse in den ersten Kinderjahren,
also grob ausgedrückt: auf Verführung zurückleiteten.
Als diese Ätiologie an ihrer eigenen Unwahrscheinlichkeit (...)
zusammenbrach, war ein Stadium völliger Ratlosigkeit das nächste
Ergebnis. Die Analyse hatte auf korrektem Wege bis zu solchen infantilen
Sexualtraumen geführt, und doch waren diese unwahr. Man hatte also
den Boden der Realität verloren. Damals hätte ich gerne die
ganze Arbeit im Stiche gelassen. (...) Endlich kam die Besinnung, daß
man (...) die Erwartungen revidieren müsse. Wenn die Hysteriker
ihre Symptome auf erfundene Traumen zurückführen, so ist eben
die neue Tatsache die, daß sie solche Szenen phantasieren,
und die psychische Realität verlangt neben der praktischen Realität
gewürdigt zu werden. Es folgte bald die Einsicht, daß diese
Phantasien dazu bestimmt seien, die autoerotische Betätigung der
ersten Kinderjahre zu verdecken, zu beschönigen und auf eine höhere
Stufe zu heben, und nun kam hinter diesen Phantasien das Sexualleben
des Kindes in seinem ganzen Umfange zum Vorschein." (1914, S. 153f.,
Hervorh. MK, MK S. 23)
"Praktische
Realität", d.h. erlittene sexuelle Übergriffe, sind nicht
mehr alleinige Ursache für Symptome, sondern "erfundene, fantasierte
Traumen", die das Kind entwickelt, um sein "kindliches Sexualleben",
seine "autoerotische Betätigung" zu vertuschen. Der Therapeut
braucht nun nicht mehr nach realen Vorkommnissen zu forschen, er kann
sich mit Fantasien zufriedengeben, denn das Schicksal des Ödipus
ist universell: Angeblich hat jeder Knabe sexuelle (libidinöse) Wünsche
in bezug auf die Mutter und sucht deshalb den Vater zu beseitigen.
(Anzumerken ist dabei,
daß Freud die eigentliche Ödipus-Sage verkürzt hat, indem
er nur die Dramatisierung des Sophokles heranzog. In ihrer vollständigen
Version paßt sie viel eher zur Verführungstheorie. Denn der
Vater des Ödipus, Laios, war ein Päderast, der sich der Entführung
eines Knaben schuldig gemacht hatte und von den Göttern mit dem Fluch
belegt worden war, daß sein eigener Sohn ihn töten würde
und dann seine Witwe heiraten würde. Es war also kein anonymes Schicksal,
sondern die Schuld des Vaters, die Ödipus zum Mörder seines
Vaters werden ließ.)
Die Folgen des Widerrufs
der Verführungstheorie wirken bis heute fort. Alice Miller, die zeitgleich
mit mir in ihrem Buch "Am Anfang war Erziehung" eine nahezu
identische Kritik an Freuds Widerruf übte, hat dazu eine unübertreffliche
Formulierung gefunden:
"Freud (...)
mußte aus Selbstschutz eine Theorie entwickeln, in der die Diskretion
gewahrt wurde, in der alles 'Böse', Schuldhafte, Ungerechte der
kindlichen Phantasie zugeschrieben wurde und die Eltern nur als Projektionsscheiben
dieser Phantasien erschienen. Daß die Eltern ihrerseits sexuelle
und aggressive Phantasien auf ihr Kind nicht nur projizieren, sondern
auch an ihm befriedigen können, weil sie die Macht besitzen, wurde
aus dieser Theorie (...) ausgespart. (Miller 1980, S. 79, MK 13)
Literatur:
Zitate nach Sigmund
Freud: Studienausgabe (10 Bände und Ergänzungsband) Frankfurt/M.
1969-1975 (S. Fischer Verlag). Und: Sigmund Freud: Gesammelte Werke
(18 Bände). 1960-1968. Frankfurt/M. (S. Fischer Verlag).
Freud, Sigmund (1895) (mit Josef Breuer): Studien über Hysterie.
In: Studienausgabe Ergänzungsband.
- (1896): Zur Ätiologie der Hysterie. In: Studienausgabe Bd. 6
- (1899): Über Deckerinnerungen. In: Gesammelte Werke Bd. 1.
- (1900): Die Traumdeutung. In: Studienausgabe Bd. 2.
- (1901): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. In: Gesammelte Werke
Bd. 4.
- (1910): Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Mann.
In: Studienausgabe Bd. 5.
- (1916-17): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In:
Studienausgabe Bd. 1.
- (1925): Selbstdarstellung. In: Gesammelte Werke Bd. 14.
- (1936): Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis (Brief an Romain
Rolland). In: Studienausgabe Bd. 4.
- (1940): Abriß der Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke Bd. 17.
- (1950): Aus den Anfängen der Psychoanalyse (Briefe an Wilhelm
Fließ). Hrsg.: Marie Bonaparte, Anna Freud, Ernst Kris. Frankfurt/M.
- (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe.
Hrsg.: Jeffrey M. Masson. Frankfurt/M.
Krüll, Marianne (1979): Freud und sein Vater. Die Entstehung
der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung. München.
Erweiterte Neuauflage Frankfurt/M. 1992 (im Text MK).
Miller, Alice (1980): Am Anfang war Erziehung. Frankfurt/M.
Masson, Jeffrey Moussaieff (1984): Was hat man dir, du armes
Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie.
Reinbek.
Schur, Max (1973): Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt/M.
(zuerst: Freud Living and Dying. 1969)
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