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  Vortrag auf den 39. Gütersloher Fortbildungswochen im Westfälischen Landeskrankenhaus Gütersloh. Oktober 1987.
Veröffentlichung: Klaus Dörner (Hrsg.): Die unwürdigen Alten. Gütersloh 1988.


IST DAS ALTER EIN FRAUENPROBLEM?

Marianne Krüll

Der Titel meines Vortrags ist ein wenig irreführend, denn selbstverständlich ist das Alt-Werden nicht nur ein Problem von Frauen. Es scheint sogar für Männer ein größeres Problem zu sein als für Frauen, denn Männer werden im statistischen Durchschnitt nicht so alt wie wir. In meinem Vortrag möchte ich die besonderen Probleme, die das Alt-Werden für Frauen darstellt, ansprechen. Sie unterscheiden sich, so meine ich, in wesentlichen Punkten von denen, die Männer im Alter haben.

Viele dieser Unterschiede lassen sich mit Zahlen belegen. So ist insbesondere die ökonomische Situation von alten Frauen schlechter als die von Männern. Weitaus häufiger müssen alte Frauen unterhalb der Armutsgrenze leben. Ihr Gesundheitszustand ist im Durchschnitt schlechter, wenn man als Maß die Häufigkeit der Arztbesuche zugrundelegt. Die Isolation von alten Frauen ist größer, da sie viel häufiger nicht wieder heiraten oder eine neue Lebensgemeinschaft gründen als Männer. Frauen sind sehr viel häufiger als Männer in Alters- und Pflegeheimen zu finden, was sich aus ihrer statistisch längeren Lebensdauer erklärt, aber eben die Probleme des Alt-Werdens bei Frauen verstärkt (vgl. dazu Ursula Lehr, 1982).

Im Folgenden möchte ich Sie jedoch nicht mit Statistiken langweilen, sondern versuchen, das Erleben des Alt-Werdens bei Frauen im Unterschied zu dem andersartigen Erleben bei Männern an einigen Beispielen aufzuzeigen.

Anregung dazu hat mir die Brecht-Geschichte gegeben, die im Programm dieser Tagung abgedruckt ist, in der er von den letzten Jahren seiner Großmutter erzählt. Diese alte Frau, gerade Witwe geworden, fällt aus der ihr zugedachten Rolle, weil sie ihre erwachsenen Kinder nicht zu sich ins Haus nimmt oder zu ihnen zieht, weil sie ins Kino geht, im Gasthaus ißt, weil sie zu einem Freund geht, und sich mit ihm bei einem Glas Wein unterhält und vielleicht noch andere Dinge mit ihm treibt ..., wie die Söhne zu vermuten scheinen.

Ich habe mir überlegt, daß dieses Verhalten bei einem alten Mann als vollkommen angepaßt gelten würde. Man würde augenzwinkernd und anerkennend sagen, daß er trotz seines Alters noch ein rechter Schwerenöter sei. Wenn sich also Brechts Großvater so verhalten hätte wie die Großmutter, wären die Söhne wahrscheinlich sogar stolz auf ihren lebenslustigen Vater gewesen, hätten zumindest nie die Idee gehabt, er könne verrückt sein, wie sie bei der sich amüsierenden alten Mutter annahmen.

Brechts Geschichte macht deutlich, daß das Alt-Werden für Frau und Mann verschieden ist. Eine alte Frau hat zurückgezogen und bedürfnislos zu sein. Sie soll - wie eh und je - ihren Kindern und Enkeln gegenüber hilfsbereit und fürsorglich sein. Sie soll Hilfe, die ihr angeboten oder gegeben wird, dankbar annehmen. Sie soll vor allen Dingen vollkommen unerotisch und körperlich unattraktiv sein.

Besonders in dem letzten Punkt unterscheidet sich die Rolle der alten Frau sehr stark von der des alten Mannes. Denn seltsamerweise gelten die weißen Haare, die Falten, die schlaffe Haut bei einem Mann nicht als unerotisch, sie sollen ihn sogar für junge Frauen besonders interessant machen. Der "reife" Mann mit "markanten", d.h. faltigen Zügen im Gesicht und mit grauen Schläfen gilt als erotisch anziehend. Niemand verachtet den alten Goethe oder die junge Ulrike von Levetzow, wenn sie sich ineinander verlieben. Wenn aber eine alte Edith Piaf einen 20jährigen Mann heiratet, dann rümpft man die Nase und kann vor allem nicht begreifen, weshalb sich der junge Mann nicht vor der alten Frau ekelt. Goethe war aber mit über siebzig äußerlich bestimmt nicht attraktiver als Edith Piaf im selben Alter.

Ich behaupte, daß niemand von uns trotz aller Emanzipation und Toleranz völlig frei von diesem Vorurteil ist. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich auch "komische" Gefühle", wenn ich eine Frau von 65 als Partnerin eines 30jährigen erlebe. Ich kann mir zwar vorstellen, selbst mit einem Mann zusammenzuleben, der mein Sohn sein könnte, doch glaube ich, daß eine solche Beziehung wegen des Drucks von außen sehr prekär wäre. Dagegen - dessen bin ich sicher - fällt es keinem Mann hier im Raum schwer, sich als älterer Herr ein Leben mit einer sehr viel jüngeren Partnerin vorzustellen. Im Gegenteil, ich behaupte, daß es der Wunschtraum der meisten Männer ist, es den prominenten Männern in Gegenwart und Vergangenheit nachzutun, seine "Alte zu Vierzig" in zwei "Junge zu Zwanzig" umzutauschen!

Ich gestehe offen ein, daß ich diese Rollendefinition ungerecht und gemein finde! Meine Freundin - noch ein paar Jahre älter als ich - meint, daß es genau umgekehrt sein müßte: Im Gegensatz zu Männern nimmt bei uns Frauen die sexuelle Potenz im Alter nicht ab. Im Gegenteil, nach der Menopause sind wir endlich erlöst von der Angst vor unerwünschten Schwangerschaften und könnten nun unsere Sexualität in vollen Zügen genießen. Außerdem, meint meine Freundin, könnten wir älteren Frauen den jungen Männern gerade auf dem sexuellen Gebiet so viel mehr zeigen als die älteren Männer den jungen Mädchen ...!

Und dann erinnern wir uns an den Film "Harold und Maude", und wir geraten ins Schwärmen, wie so viele Frauen unserer Generation, die glänzende Augen bekommen, wenn sie an diesen Film denken. Er ist zwar von einem Mann gedreht worden und die Hauptfigur ist der achtzehnjährige Harold, aber wir lieben Maude, die achtzigjährige, in die sich Harold verliebt: Maude genießt diese letzte Liebe ihres Lebens auch sexuell. Sie verführt den Jungen, aber mit so leichter Hand, daß er sich eher geführt und geleitet fühlt. Er entdeckt durch sie die Schönheit, die Verrücktheit, die Erhabenheit des Lebens, und läßt sich von ihr verzaubern. Maude lebt in einem Eisenbahnwaggon, umgeben von Gegenständen, die sie an ihre schöne und bittere Vergangenheit erinnern. Aber sie ist dennoch wach und der Gegenwart zugewandt, voller Leben, voller Liebe - so gar nicht "alte Frau", wie sie nach der herkömmlichen Rolle in ihrem Alter sein müßte. Und sie weicht auch nicht der Unvermeidlichkeit ihres Todes aus, sondern wählt entschlossen den Zeitpunkt selbst, um an einem Höhepunkt aus dem Leben zu scheiden.

Maude ist für mich ein Modell dafür geworden, wie ich selbst alt werden möchte. Männer haben mehr solcher positiven Modelle. Für uns Frauen gibt es nur sehr wenige. Ich glaube, daß das Fehlen solcher Modelle eines der größten Probleme des Alt-Werdens von Frauen ist.

Doch nicht nur in Bezug auf die Sexualität unterscheiden sich die Altersrollen von Mann und Frau. Eine alte Frau kann sehr leicht zu einer "Hexe" werden, was einem Mann nicht passieren kann. Es gibt keine derartig negative Rolle im Alter für ihn. Er mag verschroben, eigenbrötlerisch, starrköpfig usw. werden, doch die Bedrohlichkeit einer "Hexe" ist nicht Teil der männlichen Altersrolle.

Ich erinnere mich, daß ich als Kind Angst hatte vor einer allein lebenden alten Frau in der Nachbarschaft, weil man von ihr als "Hexe" sprach. Aus dem Märchen "Hänsel und Gretel" kannte ich eine Hexe und stellte mir vor, daß diese alte Frau ebenso böse sein müßte. Ich glaube, daß dieses Bild der Hexe ein außerordentlich destruktiver Teil der weiblichen Altersrolle darstellt. Da er an die mittelalterlichen Hexenvorstellungen anknüpft, möchte ich ein paar Vermutungen darüber anstellen, welche Art von Frau die Knusperhexe im Märchen von Hänsel und Gretel wohl gewesen sein könnte:

Sie war möglicherweise eine der vielen heilkundigen Frauen, die Mittel zur Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung kannten, zu der Frauen gingen, um sich helfen zu lassen. Diese Kräuterfrauen wurden verfolgt wegen ihres Wissens über Geburtenregelung, denn man brauchte Menschen, um Kriege zu führen oder um die durch die Schlachten verminderte Bevölkerung wieder aufzufüllen. Daher sollten Kinder geboren werden, auch gegen den Wunsch der Frauen. Hebammen und Heilerinnen, die Frauen zur Empfängnisverhütung oder Abtreibung verhalfen, wurden verfolgt.

Diese Frauen waren aber nicht nur Hebammen, sondern auch noch hervorragende Psychotherapeutinnen. Denn mit ihren magischen Sprüchen, Geisterbeschwörungen, Mondritualen usw. waren sie möglicherweise erfolgreicher als manche Psychiater mit ihren Medikamenten heute! Diese Macht stand aber in krassen Gegensatz zum Machtanspruch der Kirche über die Seelen der Menschen. Da die Heilerinnen ihr Wissen meist aus vorchristlichen Kulturen bezogen, waren sie der Kirche doppelt verdächtig. Dazu kam, daß die Heilkunde immer mehr zu einer Sache der Männer wurde. In der neuen medizinischen Wissenschaft hatten die Frauen nichts mehr zu sagen. Das Wissen der Heilerinnen und Hebammen galt entweder als bedrohlich oder als minderwertig, in jedem Fall mußte es bekämpft werden - am einfachsten, indem man die Frauen umbrachte. Diese Frauen waren die ersten "Hexen", die verfolgt und verbrannt wurden.

Als "Hexen" wurden dann aber auch diejenigen Frauen verfolgt, die sich der patriarchalischen Frauenrolle nicht fügen wollten, und sich beispielsweise weigerten, einen Mann zu heiraten, der ihnen nicht paßte. Frauen, die eine erotische Ausstrahlung - z.B. rote Haare - hatten und deshalb Männern begehrlich oder bedrohlich erschienen, wurden der Hexerei angeklagt. Im "Hexenhammer", einer vor genau 500 Jahren erschienenen Inquisitionsschrift, werden genaue Angaben gemacht, wie und woran man eine vom Teufel besessene Frau erkennt. Es geht daraus klar hervor, daß allein der Verdacht genügte, um eine Frau auf den Scheiterhaufen zu bringen, da alles, was sie tat, bei bestehendem Verdacht auf Hexerei gegen sie ausgelegt werden konnte. Durch Folterungen wurden verdächtigte Frauen zu Geständnissen gepreßt, durch die sie sich nicht etwa vor dem Tode retten, sondern höchstens eine "mildere" Art der Tötung erreichen konnten.

Versetzen wir uns einmal in eine Frau, die zur Zeit der Hexenverfolgung lebte (die letzte "Hexe" wurde vor etwa 200 Jahren verbrannt): Sobald sie mit der ihr vorgeschriebenen Rolle nicht in Einklang war, stand sie in Lebensgefahr. Aber auch, wenn sie auf irgendeine Weise mißliebig auffiel, konnte man ihr den Umgang mit dem Teufel unterstellen. Dazu kommt, daß Menschen in dieser Zeit schon als Kinder Hexenverbrennungen miterlebten, daß also die meisten Frauen schon als kleine Mädchen erfuhren, daß eine Nachbarin, Tante, Großmutter - oder gar die eigene Mutter auf einmal vom Teufel besessen sein kann und umgebracht werden muß! Kleine Mädchen lernten also, daß auch in sie der Teufel fahren könnte. Sie lernten in Angst vor sich selbst zu leben, lernten die eigene Sexualität zu fürchten. Sie lernten aber vor allem, daß ihr subjektives Gefühl von Unschuld nichts galt. Und das machte sie wiederum zu leichten Opfern von Mißbrauch durch Männer.

Einige Menschen haben auch damals schon erkannt, daß nicht die verfolgten Frauen, sondern ihre männlichen Verfolger "besessen" waren, nämlich von ihren eigenen sexuellen Fantasien, die sie auf die Frauen projizierten und an ihnen ausagierten, indem sie ihre Körper mißbrauchten. Die "Teufel" waren die Männer selbst, die mit Sicherheit nicht selten ihre eigenen Ehefrauen, Töchter, Schwestern sexuell mißbraucht hatten und ihre Schuldgefühle durch Verfolgung anderer Frauen als "Hexen" zu vertuschen suchten. Mit dem Bild der Hexe und der religiös begründeten Rechtfertigung, sie zu töten, war ein extremer Sexismus entstanden, der die Beziehungen zwischen den Geschlechtern vergiftete.

Wir können uns heute trösten und sagen, daß ja zum Glück die Zeit der Hexenverfolgung vorbei ist, daß keine Frau mehr auf dem Scheiterhaufen sterben muß. Doch ich glaube, daß das Bild der Hexe nicht nur im Märchen, sondern in uns allen - Männern und Frauen - noch weiter vorhanden ist und seine destruktive Wirkung auf unser Verhalten besonders gegenüber alten Frauen ausübt. Ich glaube, daß eine jede Frau nichts mehr fürchtet, als im Alter eine "alte Hexe" zu werden, oder als solche angesehen zu werden. Und ich glaube, daß es diese Angst ist, die uns daran hindert zu erkennen, daß eine "Hexe" damals und heute eine bewundernswerte, nonkonformistische Frau war/ist!

Maude wäre beispielsweise mit Sicherheit vor 300 Jahren als Hexe bezeichnet worden. Sie wäre aber auch heute irgendwann "in Gewahrsam" genommen worden und vermutlich in der Psychiatrie gelandet, wenn sie nicht Selbstmord gemacht hätte. Denn die Teufelsbesessenheit, die man den unliebsamen Frauen damals unterstellte, hat heute nur ein anderes Etikett - nämlich "Geisteskrankheit", "Altersschwachsinn", "Verkalkung", "Senilität", "Infantilismus" usw. - bekommen. Die Rückwirkungen dieser Etikettierungen auf die Frauen jedoch sind die gleichen: sie machen Angst vor den eigenen inneren Prozessen, vor möglicher Abweichung von vorgeschriebenen Rollennormen.

Hierzu das Beispiel einer achtzigjährigen Frau, die die letzten 5 Jahre ihres Lebens in einem als "Altersdemenz" diagnostizierten Dämmerzustand dahinlebte. Sie war allerdings immer dann voll bei Sinnen, wenn ihr vergötterter Sohn zu Besuch kam. Mit ihm unterhielt sie sich völlig normal, so daß er seinen Geschwistern nicht glauben wollte, daß die Mutter sofort wieder in ihren Dämmerzustand zurückfiel, wenn er aus dem Zimmer gegangen war. Als Außenstehender konnte man den Zustand dieser Frau als ihren Weg verstehen, der Angst vor dem Verrücktwerden zu entgehen. Sie wollte um jeden Preis nicht das Schicksal ihrer Schwester erleiden, die in ihren letzten Jahren verwirrt gewesen war. Ihr Dämmerzustand "ent-rückte" sie ihrer Angst, verrückt zu sein, indem sie die Realität ihres Zustands nicht mehr wahrnahm. Daß sie dadurch "verrückter" war als ihre Schwester, erkannten alle, nur sie nicht.

Was war die Angst vor dem Verrückt-Werden dieser Frau? Warum war sie wie weggeblasen, wenn der Sohn bei ihr war? Sie konnte oder wollte nicht wahrhaben, daß ihr ganzes Leben im Grunde genommen leer war. Sie hatte zwar sieben Kinder geboren, aber nie ein Eigenleben geführt. Als die Kinder aus dem Haus gingen und ihr Mann starb, setzte sie alle Hoffnung in ihren Lieblingssohn, der sie wie ein Märchenprinz ins Leben führen sollte. Er mußte ihr als kleiner Junge einmal versprechen, sie, wenn er groß sein würde, in einer weißen Kutsche spazierenzufahren. Sie scheint ihr ganzes Leben darauf gewartet zu haben. Doch als sie alt war, kümmerte er sich nicht um sie, nicht einmal eine versprochene Reise machte er mit ihr. Die alte Frau reagierte darauf, indem sie ihren Verstand abschaltete und in eine Wahnwelt driftete, aus der sie nur herauskam, wenn er auftauchte.

Aber ist diese Frau wegen ihrer Affenliebe und ihres daraus resultierenden unwürdigen Alt-Werdens zu kritisieren? Keineswegs, denn sie hat ihre Mutter- und Frau-Rolle ganz nach Vorschrift gelebt. Im Dritten Reich bekam sie das Mutterkreuz, weil sie sieben Kinder hatte, die sie im Krieg allein durchbrachte. Alle Kinder waren "etwas" geworden. Sie ließ sich gern bewundern, eine so starke Frau gewesen zu sein. Doch war sie das im Grunde ihres Herzens gar nicht. Sie konnte es sich nur nicht eingestehen, daß die Rolle der Nur-Mutter für sie immer schon "ver-rückt" gewesen war. Sie hat die vielen Kinder gar nicht gewollt. Ihre Ehe war unglücklich, sie blieb nur, weil eben die Kinder da waren und sie keine eigene Existenzmöglichkeit hatte. Insgeheim war sie wahrscheinlich froh, als ihr Mann starb und hoffte auf ein neues, "eigentliches" Leben. Aber das schien ihr wiederum nur durch einen Mann, ihren vergötterten Sohn, möglich zu sein. Als ihr bewußt wurde, daß ihr Lebenswunsch unerfüllt bleiben würde, versank sie in ihren Dämmerzustand, um den Irrsinn ihres Lebens nicht wahrnehmen zu müssen und daran irre zu werden.

Sie hätte es mit Hilfe von anderen Menschen vielleicht noch schaffen können, ihrem Leben im Alter einen anderen Sinn zu geben. Aber es wäre schwer gewesen, weil ihre Vorstellung, daß jegliche Form von Abweichung "Verrücktheit" bedeutet, so tief in ihr verankert war. Sie konnte nicht wie Brechts Mutter aus der vorgeschriebenen Altersrolle ausbrechen. Um nonkonformes Verhalten entwickeln zu können, darf man nicht fürchten, als Verrückte angesehen zu werden. Das heißt, man muß als Frau davon überzeugt sein, daß unser Leiden an der vorgeschriebenen Rolle "normal" ist, weil die herkömmliche Frauenrolle selbst "verrückt" ist, weil sie uns Frauen in Verhaltensweisen zwingt, die im Vergleich zur Männerrolle "ver-rückt" sind.

Selbstverständlich sind nicht alle Frauen mit der herkömmlichen Rolle unzufrieden. Viele haben sich mit der Frau- und Mutterrolle identifiziert und sind damit glücklich. Doch ist es nicht gerechtfertigt, diese Zufriedenheit als "natürlich" zu bezeichnen und die Unzufriedenheit der anderen Frauen als "unnatürlich". Wenn Frauen wie die geschilderte alte Frau sich in eine Wahnwelt zurückziehen, wenn andere Frauen Krankheiten entwickeln oder psychisch und physisch erstarren, oder auch zu alles kontrollierenden Tyranninnen werden, so ist das eine ebenso "natürliche" Konsequenz der Rolle wie die Konformität.

Was für die Verrücktenrolle gilt, gilt auch für die Altersrolle. Auch sie ist in ihren negativen Aspekten nur zu überwinden, wenn man fest davon überzeugt ist, daß Altern nicht notwendigerweise ein angsterregender Prozeß ist, dem wir Menschen unweigerlich ausgeliefert sind. Die Angst vor dem Altern und vor dem Sterben ist nichts Natürliches. Man muß nicht vor dem physischen Verfall, vor der Hillflosigkeit und Abhängigkeit von anderen Angst haben. Maude muß nicht nur eine Filmfigur sein, eine fiktive Rolle - sie kann auch in die eigene Wirklichkeit umgesetzt werden. Ich meine, es ist möglich, konsequent bei der Überzeugung zu bleiben, daß Leben Er-Leben ist, daß auch die schwerste körperliche Behinderung oder die unmittelbare Nähe des Todes intensives Leben bedeuten kann.

Ich kannte eine Frau, die - schwer krebskrank - zu mir sagte, daß sie ihr Leben noch nie so reich und schön gefunden habe. Sie hatte die Musik entdeckt und war beglückt, zum erstenmal in ihrem Leben bewußt Mozart-Musik zu genießen. Sie meinte, daß seit ihrer Krebserkrankung ein neues Leben für sie begonnen habe. Auch meine Großmutter war bis zu ihrem Ende fröhlich. Sie zog die Bilanz ihrer 76 Jahre und meinte, daß es ein schönes Leben gewesen sei, und es nun auch genug sei. Sie kämpfte nicht gegen das abnehmende Leben, sondern genoß es bis zuletzt. Noch wenige Tage vor ihrem Tod ließ sie sich von mir - gegen den Rat der Ärzte - eine Flasche Malzbier bringen. Sie trank nur wenige Schlucke, weil ihr schlecht wurde, ich bekam große Angst. Doch sie lachte nur und meinte, daß Verbotenes ihr schon immer am besten geschmeckt habe.

Kommen wir zurück zur Rolle der alten Frau. Für viele Frauen verstärken sich die negativen Aspekte der beiden Rollen: Zur sozialen Minderbewertung der Frauenrolle kommt die der Altersrolle hinzu. Dies muß jedoch für die Frau nicht unbedingt so erlebt werden. Altersforscher vermuten sogar, daß die längere Lebenserwartung von Frauen damit zusammenhängt, daß sie sozusagen nahtlos von ihrer negativ getönten Frauenrolle in die ebenfalls negative Altersrolle übergehen. Der häufige "Rentnertod" bei Männern, also das Sterben sofort nach der Pensionierung, wäre in dieser Perspektive die Folge des abrupten Wechsels von der weitaus positiveren Männerrolle, die Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Wichtigkeit usw. verleiht, in die Altersrolle, in der Bedürfnislosigkeit, Abhängigkeit, Hilflosigkeit gefordert sind.

Frauen, die schon in jüngeren Jahren die herkömmliche Frauenrolle nicht übernommen haben, sei es daß sie berufstätig blieben oder nicht heirateten und kinderlos blieben, ist der Wechsel zur Altersrolle noch abrupter als für einen Mann, weil sie sich auch noch damit auseinandersetzen müssen, ihre herkömmliche Rolle nicht gelebt zu haben. Andererseits haben sie aber auch die größere Chance, zu ihrer Altersrolle in einer gewissen Distanz zu stehen, also etwa weiterhin aktiv zu bleiben, zu reisen, Männerfreundschaften zu halten, ohne sich deshalb für "verrückt", "krank" oder "unnatürlich" zu empfinden. So wie Maude können diese Frauen sich auch im Alter Abweichungen von der Altersrolle eher erlauben, weil sie auch von der traditionellen Frauenrolle abgewichen waren.

Meine Hoffnung auf Veränderung der sozialen Altersrolle geht dahin, daß in Zukunft - vor allem dann, wenn ich selbst alt bin -, mich mein Verhalten nicht zu einer Außenseiterin machen wird, sondern daß es dann viele alte Menschen geben wird, die mit mir "aus der Rolle fallen"! Die Grauen Panther (übrigens von einer Frau gegründet) haben für eine solche Einstellung den Boden geebnet. Sie prangern die negativen Aspekte der Altersrolle an und weisen mit ihren Aktionen darauf hin, daß und wie sie verändert werden kann, so daß Alt-Werden und Sterben kein Dahinvegetieren, sondern ein aktives Leben sein kann.

Abschließend ein Fazit, das aber kein Abschluß, sondern Anregung zum Weiterdenken und zum aktiven Handeln sein soll:

Ich bin davon überzeugt, daß die in unserer Gesellschaft dominierenden Vorstellungen vom Alt-Werden und vom Frau- bzw. Mann-Sein für jede/n von uns und für die gesamte Gesellschaft destruktiv, "ver-rückt" sind. Sie haben sich in einem historischen Prozeß entwickelt, sind zu sozialen Rollen geworden, die uns aber nicht als solche präsentiert werden, sondern als unsere "Natur". Es kommt also in meinen Augen entscheidend darauf an, diesen vermeintlichen "Natur"-Charakter der sozialen Rollen zu überwinden. Es gibt nichts am Alt-Werden oder am Frau-, bzw. Mann-Sein, was so sein muß, wie es ist. Wir alle könnten Maudes werden!

Wenn ich selbst der Versuchung zu erliegen drohe, wieder in herkömmliche Rollen-Vorstellungen zurückzufallen und sie auch als mein Los zu befürchten, mache ich die Wut-Mut-Übung. Ich kann sie jeder/m wärmstens empfehlen:

Ich stelle mir zunächst mein eigenes Alt-Werden entsprechend der herkömmlichen Altersrolle als Frau vor. Ich stelle mir also vor, wie meine Haut schrumpelig wird (wird sie jetzt schon) und daß ich mich deshalb häßlich fühlen soll. Ich stelle mir vor, wie ich zwar noch sexuell aktiv sein möchte, es mir aber verboten ist, solche Gefühle zu haben. Ich stelle mir vor, wie ich von anderen Menschen als alte Hexe angesehen werde, wenn ich berechtigte Wünsche äußere oder auf meine Diskriminierung als Frau hinweise (das passiert mir schon jetzt manchmal, wenn ich als Feministin auftrete!). Ich stelle mir vor, wie ich bei wirklicher Hilflosigkeit, z.B. Krankheit, von anderen Menschen als lebensunwert, weil alt, betrachtet werde. - Und dann kommt in mir die riesengroße Wut hoch über die Zumutung dieser Rolle!

Als Mann würde ich mir in der Wut-Übung zusätzlich vorstellen, wie ich meine Altersrolle so unerträglich finde, daß ich sie nicht wie die meisten Frauen geduldig ertragen kann, sondern stattdessen gleich sterben muß, wie es ja vielen Männern passiert. Und dann würde ich auch als Mann die große Wut empfinden, daß dies mein Los sein soll.

Das ist der Wut-Teil der Übung. Im Mut-Teil suche ich mir Modelle von Menschen, die diese unerfreuliche Frauen-Altersrolle nicht gelebt haben, sondern auch in hohem Alter geistig wach und lebensfroh geblieben sind, die würdig gestorben sind aus der Fülle eines reichen Lebens bis zum Schluß. Männer haben dafür viele Vorbilder, wir Frauen müssen sie mühsam suchen. Aber es gibt sie, nicht nur im Film.

Ich mache mir klar, daß mich nichts daran hindert, als Frau auf dieselbe Weise alt zu werden wie diese Vorbilder. Das einzige Hindernis wäre mein Glaube daran, daß die soziale Rolle der alten Frau, wie sie sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat, naturnotwendig sei. Ich sage mir dann mit fester Überzeugung: Sie ist es nicht!

Und um die Wut-Mut-Übung immer wieder mit Erfolg zuende zu bringen, sammele ich Modelle von Menschen. Nicht nur positive, auch negative. Eine Begegnung mit einem alten Menschen, besonders mit einer alten Frau, stellt für mich eine Herausforderung dar zu überprüfen, welche Reste von Vorstellungen über die "alte Hexe" immer noch in mir herumspuken. Ich frage mich, wo diese Vorstellungen herkommen, an welche Personen aus meiner Kindheit ich durch die Begegnung erinnert wurde. Und dann bemühe ich mich herauszufinden, weshalb dieser alte Mensch vor mir so geworden ist, wie er oder sie jetzt ist. Wenn es ein Mensch voller Resignation, Erstarrung, Verzweiflung ist, versuche ich zu erfahren, welche Vorstellungen dieser Mensch schon früher vom Alt-Sein mit sich herumschleppte. Denn dieses Bild ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Wer Angst davor hat, in den Augen der anderen eine "alte Hexe" zu werden, wird auch eine.

Vor allem aber sammle ich Begegnungen mit alten Menschen, die der herkömmlichen Rolle nicht entsprechen, die Maudes geworden sind. Ich versuche herauszufinden, welche anderen Modelle fürs Alt-Werden diese Menschen hatten. In meinem Beruf als Uni-Dozentin begegne ich gelegentlich Studenten, die noch älter sind als ich. Ich freue mich über jeden, der im Alter nochmal ein Studium anfängt und mit Begeisterung sich neuen Erfahrungen, auch zum Beispiel dem Umgang mit jungen Menschen, aussetzt. Menschen in helfenden Berufen, die viel mit Alten zu tun haben, kann ich die Wut-Mut-Übung sehr empfehlen, ebenso das Sammeln von Modellen von Alt-Werden. Obwohl man selbst noch nicht alt sein muß, wird man für die alten Menschen selbst zu einem Modell, bzw. man kann ihnen Alternativen zur herkömmlichen Alters-Rolle vermitteln.

Positive Modelle der alten Frau finde ich auch in der Vergangenheit. Die Hexe ist für mich beispielsweise inzwischen ein sehr attraktives Modell geworden, wenn ich an ihre magischen, heilenden Kräfte denke. Auch in nicht-patriarchalischen Kulturen der Gegenwart oder der Vergangenheit gibt es in Mythen und im realen Leben herrliche Figuren von starken, alten Frauen, die mit der Mutter Erde, oder der Großen Göttin, als Herrscherin über Leben und Tod in Verbindung sind.

Auf jeden Fall ist in meinen Augen die Knusperhexe im Märchen eine Erfindung aus der Zeit der Hexenverfolgungen. Ich meine, wir sollten das Märchen von Hänsel und Gretel und andere Märchen unseren Kindern nie erzählen, ohne ihnen dabei zu erklären, welch wunderbare Frauen die Hexen in der Zeit vor dem Christentum waren. Vielleicht sind ja Hänsel und Gretel zu der Frau im Wald gegangen, um sich von ihr über Empfängnisverhütung beraten zu lassen oder um Hilfe für ihre persönlichen Probleme zu bekommen, schließlich kamen sie aus ziemlich chaotischen Familienverhältnissen!

Und wenn wir die Hexe unbedingt als "böse" ansehen wollen, dann solten wir uns klarmachen, daß eine starke, alte Frau im Patriarchat gar nicht anders kann als böse und wütend zu werden, weil die Rolle, die man ihr zumutet, empörend ist. Gerade als Frauen sollten wir ihr und allen anderen Hexen im Märchen unsere volle Solidarität zuteil werden lassen.

Literatur:

Lehr, Ursula (1982): Zur Lebenssituation von älteren Frauen in unserer Zeit. In: Gisela Mohr, Martina Rummel, Dorothee Rückert (Hrsg.): Frauen. Psychologische Beiträge zur Arbeits- und Lebenssituation. München/Wien/Baltimore (Urban & Schwarzenberg)

 

 
 
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