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  Veröffentlicht in: Väter und Söhne. Zwölf biographische Porträts. Lektorat: Thomas Karlauf, Katharina Raabe. Berlin 1996 (Rowohlt-Berlin).


Zwei Väter, drei Söhne und der Tod
Der Senator Mann, Thomas Mann und Klaus Mann

Marianne Krüll

 
 

I.

Es war 1949, am 21. Mai, als Thomas Mann, der sich gerade auf einer Vortragsreise in Stockholm befand, per Telegramm erfuhr, daß sein Sohn Klaus in Cannes an der Cote d'Azur Selbstmord begangen hatte. Thomas Mann, der zu der Zeit noch in den USA lebte, war zum zweiten Mal nach dem Krieg wieder in Europa, diesmal, um in Frankfurt und Weimar den Goethe-Preis entgegenzunehmen. Seine Frau Katia und Erika, die 43jährige Tochter, begleiteten ihn. Thomas Manns Tagebucheintragung vom Tag darauf lautete:

"Bei Ankunft im Hotel schwerster Chock. Telegramm ... Mitteilung seines Todes. Langes Beisammensein in bitterem Leid. Mein Mitleid innerlich mit dem Mutterherzen und mit E. Er hätte es ihnen nicht antun dürfen. Die Handlung offenbar von ihm selbst unerwartet geschehen, mit Schlafkapseln, die er aus einer New Yorker Drogerie bezog. Sein Aufenthalt in Paris verhängnisvoll (Morphium). Viel über ihn und den von langer Hand unwiderstehlich wirkenden Todeszwang. Das Kränkende, Unschöne, Grausame, Rücksichts- und Verantwortungslose. Beratung auch über unsere Reisezukunft, ob alles abzubrechen und direkte Heimkehr geboten. In völliger Erschöpfung gegen 2 zu Bett."

Welch seltsam vorwurfsvoller Klang! Wieso ist für ihn, den Vater, der "Todeszwang" des Sohnes "kränkend"? Wieso hätte Klaus "es" nur dem "Muttterherzen" und der Schwester "nicht antun" dürfen? War sein Vaterherz nicht berührt? - Thomas Mann unterbrach seine Reise nicht, um zu Klaus' Begräbnis zu fahren. Auch Katia und Erika fuhren nicht nach Cannes.

Es war nicht der erste Selbstmordversuch von Klaus. Ungefähr ein dreiviertel Jahr zuvor war er nur knapp gerettet worden. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und den Gashahn aufgedreht. Da man aber das Gas im Haus gerochen hatte, fand man ihn noch rechtzeitig. Nach dem mißglückten Selbstmordversuch von 1948 schrieb der Vater Thomas an einen Bekannten:

"... Ich grolle ihm etwas, weil er seiner Mutter das antun mochte. Er ist verwöhnt durch ihr Alles verstehen - und durch meines. Die Situation bleibt gefährlich. Meine beiden Schwestern haben sich getötet, und Klaus hat viel von der Älteren. Der Trieb ist in ihn gelegt und wird durch alle Umstände begünstigt - außer allein von einem Elternhaus, auf das er sich immer verlassen kann, auf das er aber natürlich nicht angewiesen sein will." (12.7.1948)

Wenn man an einen "Trieb" zum Selbstmord glaubt, kann eigentlich nichts im Leben eines solcherart gefährdeten Menschen diese Tat verhindern. Eine Familie steht dann dem Schicksal des Angehörigen hilflos gegenüber. Eigentlich völlig im Widerspruch zu dieser Triebvorstellung ist es, wenn Thomas Mann seinem Sohn "grollt", denn was konnte Klaus gegen seinen "Trieb" tun? - Es erscheint mir bedeutsam, daß Thomas Manns Reaktion auf den Tod seines Sohnes diejenigen Gefühle spiegelt, die er nach dem Freitod seiner Schwester Carla fast vierzig Jahre zuvor empfunden hatte. Auch ihr machte er den Vorwurf, rücksichtslos gehandelt zu haben.

Die Frauen, die Klaus am nächsten standen, die Mutter Katia und die Schwester Erika, sind ihm ebenfalls mit widersprüchlichen Gefühlen begegnet. Wie der Vater haben auch sie ihn einerseits als hoffnungslosen Fall gesehen und seine Drogenabhängigkeit, seine Homosexualität als unveränderliche Natur oder Krankheit betrachtet. Andererseits haben sie diese Grundüberzeugung zu überdecken versucht mit einem verharmlosenden Mitleid, das aber letztlich einer Verurteilung gleichkam.

Und Klaus selbst? Er hat sich ohne Frage auch als hoffnungslos gegen seinen Trieb ankämpfenden Menschen gesehen, der diesen Kampf verlieren mußte. Nach dem vorletzten Selbstmordversuch schrieb er an Freunde:

"Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie greulich mit diese 'publicity' ist. Was den melancholischen und blamablen Zwischenfall selbst betrifft, so ersparst Du mir wohl weitere 'Erklärungen' - deren es ja übrigens, angesichts der furchtbaren Weltlage und meiner eigenen nicht eben einfachen Verhältnisse (um nicht zu sagen 'Veranlagung') kaum bedürfen sollte." (23.8.1948)

In seinen wahrscheinlich letzten Zeilen, die er am Tag zuvor an Mutter und Schwester richtete, deutete er mit keinem Wort seine Absicht an, sich zu töten. Er berichtet vom ungewöhnlich schlechten Wetter in Cannes, von Freunden, von Plänen für den Sommer und schließt:

"Alles Liebe, Treue, Schöne dem Papa und Euch vom Lieben, treuen, schönen K.H." (20.5.1949)

Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, den Freitod von Klaus Mann nicht als unerklärlichen "Trieb" anzusehen, sondern aus dem zu erklären, was ihn "getrieben" hat. Und das sind Geschichten, Bilder, Vorbilder in der Familie, die sozusagen als Grundmuster des familialen Unbewußten für Klaus und andere Familienmitglieder zur tödlichen Verstrickung wurden - in obigem Zitat wurde bereits das Schicksal der beiden Tanten, Schwestern Thomas Manns, angesprochen. Wenn sich Beziehungsmuster von vielen Seiten durch Wiederholung verstärken, können sie zu Lebensmustern für die Nachgeborenen werden. Zwar ist nie voraussehbar, was sich aus einem Schicksal oder einer Konstellation in der nächsten Generation ergeben wird, und auch rückschauend kann man nie eine eindeutige Kausallinie rekonstruieren, denn die meisten Fäden liegen nicht nur an der Oberfläche, sondern wirken im Untergrund und sind selbst von der betroffenen Person nicht erkennbar. Dennoch ist es sehr erhellend, die Familiengeschichten als Muster und Vorbilder zu betrachten und ihr Wirken im Leben einer Person zu verfolgen.

Die Familie Mann bietet sich hier sozusagen als Musterbeispiel an, denn nicht nur gab es in allen Generationen äußerst dramatische Ereignisse, auch haben sehr viele Mitglieder dieser Familie darüber geschrieben - große Literatur ebenso wie Briefe, Tagebücher, Notizen. Es gibt daher eine unerschöpfliche Fülle von Material, das uns als Außenstehenden zugänglich ist, was normalerweise in Familien nicht der Fall ist. Hier wurden gelebte Geschichten zu literarischen Geschichten und diese wiederum "machten" Geschichte für diejenigen, die sie sich als ihre Geschichten zueigen machten.

Ich konzentriere mich hier auf die Geschichten, die Thomas Mann mit seinem Vater, dem Senator Thomas Johann Heinrich Mann und mit seinem Sohn Klaus verbinden. Das ist eine Verkürzung, die eigentlich nicht zu rechtfertigen ist, denn nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter Thomas Manns, hatte für ihn und seine Geschwister eine eminent wichtige Bedeutung, ebenso wie Katia mit ihrer Geschichte für den Sohn Klaus bedeutsam war. Ich werde daher gelegentlich ergänzend ihre und noch andere Geschichten einbeziehen.

II

Das Leben des Lübecker Handelsmannes und späteren Senators Mann ist von seinem Sohn ziemlich genau in dessen Roman Die Buddenbrooks in der Figur des Thomas Buddenbrook nachgezeichnet worden. In einigen Punkten jedoch hat er die Geschichte seines Vaters verändert. Und genau diese Punkte sind es, die sozusagen den Schlüssel liefern für die Verstrickungen, die in dieser Familie über Generationen hinweg weiterwirkten. Schauen wir uns daher die Geschichte der Familie Mann im Vergleich zur Umsetzung in Thomas Manns Dichtung einmal genauer an:

Thomas Johann Heinrich Mann war das zweite Kind aus der zweiten Ehe seines Vaters. Der Vater, Johann Siegmund Jr., hatte seine geliebte erste Frau verloren, die im Kindbett starb. Auch drei Kinder aus dieser ersten Ehe starben. Nur zwei Söhne überlebten, die sich mit der Stiefmutter nicht gut verstanden und deshalb auch mit dem Vater später Streit hatten.

Seltsamerweise wählte der Vater nun aber für seine beiden Kinder aus der zweiten Ehe - Thomas Johann Heinrich und Elisabeth (in den Buddenbrooks die Tony) - als Paten die Eltern seiner ersten Frau. Deren Vater Thomas Wunderlich, zeitweilig Bürgermeister Lübecks, gab ihm den Namen Thomas, den dieser wiederum an seinen berühmten Sohn weitergeben sollte, der ihn seinerseits als "Thomas" Buddenbrook verewigen sollte und auch wiederum seinem Sohn Klaus als Zweitnamen vererbte. Familienbindungen über die Namengebung sind oft sehr stark.

Thomas Johann Heinrich erlebte also von Geburt an eine Gespaltenheit in der Beziehung zu seinen Eltern: Der um seine erste Frau trauernde Vater gibt ihm, dem Sohn aus der zweiten Ehe, den Vater der ersten Frau zum Paten, steht aber zu den beiden Söhnen dieser geliebten ersten Frau in Spannung, weil diese Söhne die zweite Frau, die Mutter von Thomas Johann Heinrich, nicht anerkennen.

In den Buddenbrooks hat Thomas Mann diese Zusammenhänge verändert: Die zweite Ehe hat er nicht dem Vater von Thomas Buddenbrook angedichtet, sondern dem Großvater, so daß Thomas Buddenbrook nicht mehr direkt davon tangiert war. Der wirkliche Thomas Johann Heinrich Mann dagegen trug schwer an den ambivalenten Gefühlen seines Vaters für ihn, was vor allem in seiner Reaktion auf den Tod der Mutter viele Jahre später erkennbar werden sollte.

In seiner Jugend jedenfalls war er der bevorzugte Sohn des Vaters. Nicht die beiden älteren Stiefbrüder, die auch Handelsleute waren, wurden als Erben der Firma eingesetzt, sondern er, obwohl er erst 23 Jahre alt war. Nur einen Monat nach der Firmenübergabe starb der Vater, und Thomas Johann Heinrich trug die alleinige Verantwortung für das Geschäft und bestimmte damit auch die Geschicke der Familie.

Anfangs war er geschäftlich erfolgreich und verschaffte der Firma einen guten Ruf. Ob er allerdings wirklich leidenschaftlicher Geschäftsmann war, bleibt fraglich. Beide Söhne beschrieben ihn als einen eleganten feingeistigen Mann, der viele andere Interessen hatte, dazu gehörte übrigens auch eine gute Kenntnis der Literatur. Doch es gab für ihn keinen anderen Weg, als den Auftrag des verstorbenen Vaters zu erfüllen. Ob seine beiden Söhne allerdings von ihm den heimlichen Auftrag erhielten, seine verborgenen Wünsche auszuleben?

1869, fünf Jahre nach der Geschäftsübernahme heiratete Thomas Johann Heinrich Mann die bildschöne Julia da Silva Bruhns. Auch dies wird in den Buddenbrooks geschildert, allerdings hat Thomas Mann die tragische Kindheitsgeschichte seiner Mutter Julia nicht in den Roman eingebracht. Gerda Arnoldsen, die Ehefrau des Senators Thomas Buddenbrook ist zwar in einigen Zügen der leiblichen Mutter Thomas Manns nachgezeichnet, doch ist sie eine blasse Figur ohne Konturen. Julia Mann dagegen hatte eine außerordentlich dramatische Kindheitsgeschichte, die sie im Jahre 1903 als kleine Autobiographie Aus Dodos Kindheit aufschrieb - vielleicht als Reaktion darauf, daß ihr Sohn sie nicht für würdig befunden hatte, in seinem Roman Eingang zu finden.

Julia stammte aus einer brasilianisch-deutschen Familie. Der Vater Ludwig Bruhns war ein Lübecker Handelsmann, der in Brasilien Maria da Silva, eine junge Frau aus sehr guter Familie, heiratete. Julia war ihr viertes Kind. Als sie fünf Jahre alt war, starb die Mutter mit 28 Jahren im Kindbett. Vater Ludwig brachte seine fünf Kinder, die noch nicht einmal Deutsch konnten, nach Lübeck, wo Julia mit ihrer Schwester in einem Mädchenpensionat aufwuchs. Er wollte, daß sie Deutsche würden. Er selbst kehrte nach Brasilien zurück. Julia sah ihre Brüder, die bei Verwandten lebten, nur am Sonntag bei der Großmutter. Wie sie in ihrer Autobiographie schildert, litt sie entsetzlich unter der Trennung von ihrer paradiesischen Heimat, von den Menschen, die ihr nahe gewesen waren und scheint diesen Verlust zeit ihres Lebens nie überwunden zu haben.

Als Julia da Silva Bruhns mit knapp 20 Jahren Thomas Johann Heinrich Mann heiratete, war sie wegen ihrer Schönheit, ihrer Mitgift und ihrer großbürgerlichen Herkunft eine gute Partie für ihn. Leidenschaftliche Liebe war bei beiden jedoch - so geht aus Briefen des Vaters Ludwig an seine Tochter hervor - nicht im Spiel. Man muß annehmen, daß sie sich seelisch fremd blieben. Sie teilten zwar viele Interessen: das Reisen, die Literatur, aber Julias Musikliebe und ihr überschwengliches, eigentlich immer etwas naiv-frivoles Wesen waren ihm suspekt, vor allem, was ihren Einfluß auf die Kinder betraf. Betrachtet man jedoch Julias grausame Erfahrungen, dann kann man verstehen, daß sie bestrebt war, das nicht-gelebte Leben ihrer Kindheit und Jugend in der Ehe nachzuholen.

Für Lübecker bürgerliche Verhältnisse scheint sie sich allerdings allzu freizügig mit jungen Männern aus der Garnison oder aus dem Orchester abgegeben zu haben. Ihr Verhalten gab zu Gerüchten Anlaß, die den Senator Mann verfolgten. Thomas Mann hat dies in den Buddenbrooks angedeutet. In Heinrich Manns Romanen Eugénie oder die Bürgerzeit und Zwischen den Rassen finden sich noch deutlichere Anspielungen.

Heinrich, ihr erstes Kind, hat darunter gelitten, daß sie den Anforderungen einer Gattin und Mutter im Grunde nicht gewachsen war. Als Thomas vier Jahre später zur Welt kam, hatte sich Julia - so scheint es - schon besser an ihre Rolle angepaßt. Vor allem war Thomas ihr Liebling, weil er dunkelhaarig war wie ihre brasilianischen Brüder und nicht blond wie Heinrich, ihr ältester Sohn und wie Heinrich, ihr Ehemann. Heinrich wurde von seinem Bruder Thomas entthront, er war zwar der Erstgeborene, doch für die Mutter war er der zweite. Die lebenslange Rivalität zwischen den Brüdern hat hier ihren Ursprung. Doch auch Thomas konnte seine Bevorzugung nicht genießen, denn sie bedeutete, daß er kein "Blonder", kein erotischer, Frauen-liebender Mann war wie sein Bruder. In der Novelle Tonio Kröger hat er dies zum Thema gemacht. Auch seine auf Männer gerichteten erotischen Wünsche scheinen hier ihre Wurzeln zu haben, wie noch zu zeigen sein wird.

Kehren wir zurück zum Senator Thomas Johann Heinrich Mann: In seiner Frau Julia fand er keine Stütze, wie er sie dringend gebraucht hätte, um die wachsenden Probleme und Belastungen in seinem Leben mit ihm zu tragen. Hier hat Thomas Mann in den Buddenbrooks wahrscheinlich recht genau die Fakten dargestellt. Es ging in erster Linie um finanzielle Belastungen, die er nur mühsam bewältigte: Die zweimalige Mitgift für die Schwester Elisabeth ("Tony" in den Buddenbrooks), die Abfindung der Stiefbrüder, eine Fehlspekulation, die ihn in Geldnöte brachte. Auch scheint er sich mit dem Bau seines Hauses (1881-83) verkalkuliert zu haben. Dann gab es Geldstreitigkeiten mit den Verwandten seiner Mutter, die ihren leichtlebigen Bruder unterstützte, nicht zu vergessen die Schwierigkeiten, die ihm sein eigener Bruder Friedrich ("Christian Buddenbrook") durch einen ruinösen Lebenswandel bereitete.

Diese Ereignisse scheinen so bedrückend für ihn gewesen zu sein, daß sie von den Ehren und Erfolgen, die ihm in jenen Jahren in der Öffentlichkeit und im familiären Bereich zuflossen, nicht aufgewogen werden konnten. So wurde er 1877 zwar Senator der Stadt, war Repräsentant in verschiedenen hochangesehenen Vereinigungen, so wurde 1890 das 100jährige Firmenjubiläum mit großem Pomp gefeiert, doch als seine Mutter im selben Jahr starb, ging es mit ihm rapide abwärts.

Diese Ereignisse werden in den Buddenbrooks geschildert. Doch anders als der Senator Buddenbrook im Roman war der wirkliche Senator Mann noch durch weitere Dinge belastet. Sein ältester Sohn Heinrich, der seinen Namen trug und der ihm äußerlich ähnlich war, schien völlig aus der Bahn zu geraten. Er wollte Schriftsteller werden, was der Senator nicht befürwortete. Auch trieb er sich schon mit sechzehn oder siebzehn Jahren in Bordellen herum, brach 1889 die Schule ab und begann eine Buchhändlerlehre in Dresden, wo er aber sofort mit seinen Lehrherren zusammenstieß und gegen den Willen des Vaters nach Berlin ging. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, die offenbar zu keiner Versöhnung mehr führte.

In die Buddenbrooks nicht eingegangen ist auch die Geburt des fünften Kindes des Senators, Viktor, der 1890 - zwanzig Jahre nach Heinrich, dem ältesten - zur Welt kam. Ob der Senator den Verdacht hatte, daß Viktor nicht sein Sohn sei?

Ebenfalls anders als in den Buddenbrooks war es der Senator selbst, der nach dem Tod seiner Mutter das Eltern- und Firmenstammhaus in der Mengstraße 4 in Lübeck verkaufte, so als wollte er sich damit von der Bürde, die die Familie ihm abverlangt hatte, befreien. (1)

Wenige Monate darauf erkrankte der Senator Mann an einem Blasenkrebs, wurde im Sommer 1891 operiert und starb am 13. Oktober 1891 an einer Blutvergiftung. Seltsamerweise berichtet Viktor, das der Senator sein Todesdatum in einem Traum vorausgesehen hatte (ein Thema, das Thomas Mann später in einer Novelle verarbeitete, wie noch zu berichten sein wird). Ob er seinem Sterben nachgeholfen hat? Der Senator Mann war - darüber kann kein Zweifel bestehen - seines Lebens überdrüssig, er hatte sich selbst aufgegeben.

Das wird vor allem deutlich aus seinem Testament, das er zwei Tage vor der Operation verfaßte. Er verfügte nämlich die Liquidation der Firma, obwohl diese keineswegs bankrott war, sondern sogar florierte. Er legte fest, daß das erst zehn Jahre alte Haus, in dem seine Familie lebte, verkauft werden sollte, was geradezu einer Vertreibung von Frau und Kindern nach seinem Tode gleichkam. Er regelte bis in kleinste Details sein Begräbnis, einschließlich der Todesanzeige.

Vor allem aber enthielt das Testament letzte Worte an Frau und Kinder:

"... den Neigungen meines ältesten Sohnes (Heinrich) zu einer sogenannten literarischen Tätigkeit (ist) entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Tätigkeit in dieser Richtung fehlen ihm m.E. die Vorbedingnisse; genügendes Studium und umfassende Kenntnisse. ... Mein zweiter Sohn (Thomas) ist ruhigen Vorstellungen zugänglich, er hat ein gutes Gemüt und wird sich in einen praktischen Beruf hineinfinden. Von ihm darf ich erwarten, daß er seiner Mutter eine Stütze sein wird. Julia, meine älteste Tochter, wird strenge zu beobachten sein. Ihr lebhaftes Naturell ist unter Druck zu halten. Carla ist m.E. weniger schwierig zu nehmen und wird neben Thomas ein ruhiges Element bilden. Unser kleiner Vicco - Gott nehme ihn in seinen Schutz. Oft gedeihen Kinder späterer Geburt geistig besonders gut - das Kind hat so gute Augen. - Allen Kindern gegenüber möge meine Frau fest sich zeigen und alle immer in Abhängigkeit halten. Wenn je wie wankend würde, so lese sie König Lear. -"

Was mögen die Kinder - Thomas Mann war sechzehn, die beiden Mädchen erst vierzehn und zehn Jahre alt - beim Anhören dieses Testaments empfunden haben, was Julia? Selbst wenn die Kinder ähnliche Äußerungen des Vaters schon zu dessen Lebzeiten häufig gehört haben mögen, ist es doch ein großer Unterschied, sie noch einmal sozusagen als Stimme des Vaters aus dem Grabe zu vernehmen. Als "letzte Worte" haben sie eine starke suggestive Kraft, können als Leitmotiv für ein ganzes Leben wirken.

Für die Kinder des Senators waren diese Worte Auftrag und Bedrohung zugleich. Denn eines ist klar: Thomas Johann Heinrich hätte das Verhalten seiner Frau nach seinem Tod als äußerst "schwach" und "wankend" empfunden. Eineinhalb Jahre nach seinem Tod zog sie nach München und begann dort ein neues Leben in sehr viel größerer Freizügigkeit als in Lübeck. Sie führte in Schwabing einen Bohème-artigen Salon und es war nie klar, ob Verehrer um die heranwachsenden Töchter oder um die Mutter warben.

Julia hat ganz ohne Frage gegen den letzten Willen ihres Mannes gehandelt, hat damit die Warnungen, die er in seinem Testament aussprach, auf sich gezogen. Damit mußte aber das, was die Kinder taten, in jedem Fall gegen seinen Willen gerichtet sein. Denn sie sollten der Mutter gehorsam und treu sein, wenn die Mutter ihrerseits sich als nicht wankende Frau erwies. Sie tat es nicht - was konnten die Kinder nun tun?

Das Testament seines Vaters hat Thomas Mann nicht in seinen Roman Die Buddenbrooks eingehen lassen. Übrigens hat auch Heinrich Mann es nie als Motiv in einem seiner Werke verwendet. War es, weil dieses Vermächtnis des Vaters für seine Kinder wie ein Fluch wirkte? War der Tod des Vaters für sie alle wie ein Schatten, dem sie sich nicht entziehen konnten? Denn auch wenn Thomas Mann das Testament seines Vaters nicht in die Buddenbrooks einbrachte: Ist der Tod des kleinen Hanno, des einzigen Sohnes des Senators, nicht wie die Erfüllung des "Fluches"? Hat Thomas Mann damit unbewußt zum Ausdruck gebracht, daß auch er - oder sein älterer Bruder Heinrich oder der kleine Viktor? - hätten sterben müssen, nachdem der Vater tot war?

In einer anderen Novelle mit dem Titel Der Tod, die Thomas Mann 1897, also wenige Jahre nach dem Tod des Vaters und noch vor den Buddenbrooks, schrieb, ist dieses Thema noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Hier wartet der Ich-Erzähler auf seinen Tod am 12. Oktober (man beachte die Paralelle zum Todesdatum des Senators Mannam 13. Oktober!). Die Novelle ist in Tagebuchform geschrieben. Der Mann befindet sich in einem Haus am Meer mit seiner kleinen Tochter Asuncion ("Auferstehung"), deren portugiesische Mutter (sic!) bei ihrer Geburt gestorben war. Dieses Kind stirbt am 11. Oktober an einem Herzschlag, und die Tagebuchnotiz endet mit der Erwartung des Ich-Schreibers, daß nun der Tod auch zu ihm treten wird. - Welch seltsame Vermengung der Themen in Thomas Manns Familie: Tod einer Mutter im Kindbett, Tod des Kindes und schließlich Tod des Vaters!

Die Söhne, so kann man sagen, verarbeiteten den Tod ihres Vaters in ihrer Literatur - auf Heinrich Manns sehr andersartige Art der Bewältigung kann ich hier leider nicht eingehen. (2) Die Töchter zerbrachen daran.

III

Wenden wir uns wieder Thomas Mann zu: In den Jahren 1900 bis 1903, als der Erfolg der Buddenbrooks noch nicht abzusehen war, verliebte er sich in Paul Ehrenberg, einen jungen Maler in München. Paul war blond wie der Bruder Heinrich und wie Thomas Manns Schulkameraden und Freunde, zu denen er sich in der Lübecker Zeit hingezogen fühlte. In seinem Notizbuch von 1901 vermerkte er:

"P. ist mein erster und einziger menschlicher Freund, bislang habe ich nur unter Dämonen, Kobolden, tiefen Unholden und erkentnisstummen Gespenstern, d.h. unter Litteraten Freunde gehabt."

Oder in einem Brief an einen Freund:

"... das Wiedersehen mit Paul Ehrenberg ... Er ist der Alte ... Auch ich bin der Alte: Noch immer so schwach, so leicht verführt, ... Alljährlich, um die Zeit, wenn die Natur erstarrt, bricht in die sommerliche Vereisung und Verödung meiner Seele das Leben ein und gießt Ströme von Gefühl und Wärme durch meine Adern! Ich lasse es geschehen. Ich bin Künstler genug, Alles mit mir geschehen zu lassen, denn ich kann Alles gebrauchen." (6.11.1901)

Paul aber hatte kein Interesse an ihm, er liebte Frauen und umwarb sogar Thomas Manns Schwestern. Thomas litt. In einem Brief an Paul beklagte er sich bitter:

"In Wahrheit bin ich aller dieser Lobpreisungen meines Talentes entsetzlich überdrüssig, denn sie entschädigen mich eben nicht für das Fehlende. Wo ist der Mensch, der zu mir, dem Menschen, dem nicht sehr liebenswürdigen, launenhaften, selbstquälerischen ... und nach Sympathie ganz ungewöhnlich heißhungrigen Menschen Ja sagt? - ... Wo ist dieser Mensch?!? Tiefe Stille. ... Wenn ich doch irgendwie berechtigt wäre, anzunehmen, daß Du nicht zu all den Übrigen gehörst, die das Talent höchst respektabel und den Menschen scheußlich finden." (28.1.1902)

Paul Ehrenberg war nicht der Mensch, nach dem er sich sehnte. Es scheint so, als habe Thomas Mann nie die Erfüllung seiner Sehnsucht nach dem männlichen Körper gefunden. Sie verfolgte ihn bis zu seinem Tode. Es war der Sohn Klaus, der die ungestillten Wünsche des Vaters exzessiv und in aller Öffentlichkeit auslebte. Doch auch er wurde nicht glücklich.

Die Liebe, die Thomas Mann für Paul Ehrenberg empfand, setzte er in verschlüsselter Form erst als alter Mann in seinem Roman Doktor Faustus in Literatur um. Allerdings ist das Thema der homoerotischen Liebe schon früher in seiner vielleicht schönsten Novelle Der Tod in Venedig zum Ausdruck gebracht. Hier schilderte er die Liebe eines 53jährigen Mannes, Gustav Aschenbach, für einen wunderschönen Knaben. Er schrieb sie im Anschluß an einen Aufenthalt mit seiner Frau Katia und seinem Bruder Heinrich in Venedig im Jahre 1911, ein Jahr nach dem Freitod der Schwester Carla, zwanzig Jahre nach dem Tod des Senators.

Die erste Begegnung Aschenbachs mit dem Jüngling Tadzio, der mit seiner polnischen Mutter und Geschwistern im selben Hotel untergebracht ist, beschreibt Thomas Mann so:

"Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, ... erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, ... der Schauende (glaubte), weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben ..." Und dann am Strand: "Er kehrte zurück, er lief hintübergeworfenen Kopfes durch die Flut; und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormännlich hold un herb, mit triefenden Locken und schön wie ein zarter Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann."

Er wagt es nicht, sich dem Jungen zu nähern. Ein freundliches Lächeln Tadzios, das der Junge ihm gedankenverloren schenkt, stürzt ihn in einen Liebestaumel. Wie von Sinnen verfolgt er den Jungen auf dessen Ausflügen in die Stadt, so daß man auf ihn aufmerksam wird. Zeichen seines nahen Endes häufen sich. Doch er ignoriert sie, auch die direkten Hinweise darauf, daß in der Stadt die Cholera ausgebrochen ist. In seiner grenzenlosen Leidenschaft ist ihm nur daran gelegen, den Knaben nicht aus den Augen zu verlieren. Am Tag der Abreise der polnischen Familie stirbt er in seinem Strandkorb.

Erwähnenswert ist in unserem Zusammenhang, daß Thomas Mann mit dieser Schlußszene der Novelle auch seinem Vater, dem Senator, ein Denkmal setzte. Durch eine Zeichnung, die Heinrich Mann im Alter anfertigte, und die den Senator wenige Monate vor seinem Tod in einem Ostseebad im Strandkorb sitzend zeigt, wissen wir, daß dieses Bild sich offenbar beiden Söhnen tief ins Gedächtnis grub. Somit ist der 53jährige Aschenbach am Lido in Venedig auch eine Ver-Dichtung des mit 51 Jahren gestorbenen Vaters Thomas Johann Heinrich Mann.

Die eindrucksvolle Intensität dieser Meisternovelle Thomas Manns ergibt sich aber auch daraus, daß viele der geschilderten Ereignisse bis in kleinste Details realen Vorkommnissen während dieser Reise Thomas Manns nachempfunden sind. Vor allem gab es jene polnische Familie mit dem engelhaften Knaben, der Thomas Mann ungemein faszinierte, wie seine Frau Katia bestätigte:

"Er hatte sofort ein Faible für diesen Jungen, er gefiel ihm über alle Maßen, und er hat ihn auch immer am Strand mit seinen Kameraden beobachtet. Er ist ihm nicht durch ganz Venedig nachgestiegen, das nicht, aber der Junge hat ihn fasziniert, und er dachte öfters an ihn." (Katia Mann 1974, S.71)

Man hat sogar herausgefunden, wer dieser Tadzio in der Novelle war. Erst nach Thomas Manns Tod gab er sich zu erkennen: Er war der Sohn der Baronin Moes aus Warschau und hieß Wladyslaw, sein Rufname war Adzio oder Wladzio. Bei Thomas Mann wurde daraus Tadzio. Der Übersetzer von Thomas Manns Werken ins Polnische machte den 68jährigen Baron Moes 1964 in Warschau ausfindig. Er erzählte:

"Ich galt als ein sehr hübsches Kind, und die Frauen haben mich bewundert, ... ich hatte genau die kindlich-lässige Art, wie sie verwöhnte und frühreife Kinder zuweilen zur Schau tragen. Im Tod in Venedig ist das besser beschrieben, als ich es je könnte." (Krüll S.229f.)

Gustav Aschenbach ist in der Novelle zwar älter als Thomas Mann, dennoch ist er ein getreues Abbild seiner selbst mit 36 Jahren, zur Zeit ihrer Niederschrift. Die Anerkennung der Welt, die er damals genoß, und die Müdigkeit, sich durch immer neue Werke beweisen zu müssen, legt Thomas Mann seinem Helden in den Mund, beziehungsweise ins Herz. Allerdings gibt es bedeutsame Unterschiede zwischen Autor und Erzählfigur: Während das Erlebnis der Verliebtheit in den schönen Tadzio bei seinem Novellen-Helden dessen Geheimnis blieb, das er mit ins Grab nahm, erlebte Thomas Mann seine Liebe zu dem Knaben in Gegenwart seines Bruders und seiner Frau, der er seine Gefühle mitteilte. Mehr noch: Er machte daraus eine Novelle, in der er sich der literarischen Öffentlichkeit offenbarte. War dies nicht wie ein grandioses Coming-Out, ein Öffentlich-Machen seiner homoerotischen Gefühle?

Als Thomas Mann dem polnischen Knaben begegnete, war sein Sohn Klaus erst fünf Jahre alt. Ich habe mich gefragt, was wohl Klaus dabei empfand, als er - einige Jahre später - diese Novelle seines Vaters las. Denn als Klaus zwölf oder vierzehn Jahre alt war, richtete sich das heimliche Begehren des Vaters auf ihn, den Sohn, wie wir jetzt aus Thomas Manns Tagebüchern wissen.

Man ist immer geneigt, Klaus Manns tragisches Schicksal allein aus seiner Vater-Beziehung zu erklären. Doch die Themen in seinem Leben waren nicht nur geprägt durch den Vater, sondern auch durch Katia, die Mutter.

Katia Pringsheim stammte aus einer der reichsten und angesehensten jüdischen Familien Münchens. Der Vater war Mathematikprofessor, die Mutter eine ehemalige Schauspielerin. Alles was in München Rang und Namen hatte, verkehrte im Hause Pringsheim. Ihre Villa war mit erlesenen Kunstgegenständen, Gemälden und edlen Möbeln eingerichtet. Katia hatte vier Brüder, die nur wenig älter waren als sie, der jüngste, Klaus, war ihr Zwilling.

Der Ruhm, der Thomas Mann durch den Erfolg der Buddenbrooks zuteil wurde, öffnete ihm die Türen zu den großen bürgerlichen Häusern Münchens. So konnte er es wagen, um Katia zu werben. Sie sträubte sich sehr:

"Ich war zwanzig und fühlte mich sehr wohl und lustig in meiner Haut, auch mit dem Studium, mit den Brüdern, dem Tennisklub und mit allem, war sehr zufrieden und wußte eigentlich gar nicht, warum ich nun schon so schnell weg sollte." (Katia Mann 1974, S.23)

Doch Thomas Mann warb um sie mit großer Beharrlichkeit. Er schrieb ihr Briefe - die übrigens zum Teil in seinen Roman Königliche Hoheit eingingen, in denen er sie anflehte:

"Seien Sie meine Bejahung, meine Rechtfertigung, meine Vollendung, meine Erlöserin, meine - Frau!" - "Aber ich liebe Sie ja, Herrgott noch mal, verstehen Sie denn nicht, was das heißt? ... Meine Frau sollen Sie sein und mich unsinnig stolz und glücklich dadurch machen!" (Januar, Juni 1904)

Rechtfertigung, Vollendung, Erlösung, Stolz - das sollte sie ihm geben, die Krönung seines Lebens sein. Und was konnte er ihr sein? Ihr Traum-Mann war Thomas Mann gewiß nicht. In ihren Ungeschriebenen Memoiren erzählt sie, daß sie und ihre Brüder ihn den "leberleidenden Rittmeister" nannten, weil er "etwas bläßlich war und schmal, und dann war er sehr korrekt mit seinem Schnurrbart und in seinem ganzen Auftreten."

Katias Eltern und Brüder unterstützten seine Werbung. Katia versuchte, die Entscheidung so lange wie möglich hinauszuzögern. Einem Freund schrieb er:

"Sie kann nicht, kann 'es sich nicht denken', sich nicht entschließen. Solange die Entscheidung nicht unmittelbar vor ihr steht, ist ihr, nach ihren eigenen Worten, alles ganz leicht, natürlich und selbstverständlich, aber kommt es zur Sache, so sieht sie mich an wie ein gehetztes Reh und ist außer Stande..." (Juli 1904)

Doch nach den Ferien war ihr Widerstand gebrochen. Bei einem seiner Besuche bat er sie, sich in ihrem Zimmer ihre Bücher ansehen zu dürfen. Und dort, so erinnerte sich Katia siebzig Jahre später, "fiel er über mich her". Bei Thomas Mann heißt es in seinem Notizbuch - zur Verwendung für den Roman Königliche Hoheit:

"Und hat ja nun doch im golddunklen Prachtgemach eine Märchenprinzessin, rätselhaft und süß, in seinen Arben gehalten und in lebensbrünstigem Kusse den Atem von ihrem Munde getrunken."

Die Hochzeit fand schon wenige Monate später statt und noch im selben Jahr - im November 1905 wurde das erste Kind, die Tochter Erika, geboren. Genau ein Jahr darauf, am 18. November 1906 kam Klaus zur Welt. Thomas Mann schrieb ein Werk nach dem anderen, und Katia? War sie, die gerade 25-Jährige, mit diesen beiden so schnell aufeinanderfolgenden Geburten nicht überfordert? War das Leben als Ehefrau und Mutter für sie nur auszuhalten, weil das Elternhaus, die Mutter und die noch ledigen Brüder ganz in der Nähe waren? Sie scheint mit ihrer Familie noch wie mit einer Nabelschnur verbunden geblieben zu sein.

Und was wußte sie von den homoerotischen Neigungen ihres Mannes? In späteren Jahren, so wissen wir aus seinen Tagebüchern, war sie informiert und brachte ihm Verständnis entgegen, wofür er ihr sehr dankbar war. Am Anfang ihrer Ehe jedoch scheint er sich ihr noch nicht anvertraut zu haben.

IV

Der vom Vater "vergnügten Herzens" begrüßte Sohn wurde auf die Namen Klaus Heinrich Thomas getauft - Klaus nach Katias Zwillingsbruder, Heinrich nach dem Bruder des Vaters und Thomas nach dem Vater selbst. Welch schwere Bürde lastete mit diesen Namen von seiner Geburt an auf ihm! (3) Ich vermute, daß Katia ihrem Sohn nicht die emotionale Zuwendung geben konnte, die er gebraucht hätte, um den übermächtigen Druck, der alsbald vonseiten des Vaters auf ihm lastete, zu mildern.

Wie erlebte Klaus seine Kindheit? In seinen Memoiren von 1932 - Schon mit 26 Jahren meinte er, eine Lebensbilanz ziehen zu müssen! - schilderte er die außerordentlich privilegierte Kindheit, die er genoß. Vor allem die paradiesischen Ferien, die er mit seinen Geschwistern (nach ihm wurden 1909 Golo und 1910 Monika geboren, die beiden jüngsten, Elisabeth und Michael erst nach dem Ersten Weltkrieg 1918 und 1919) im Familien-Landhaus in Bad Tölz verbrachte, blieben ihm in unauslöschlicher Erinnerung. Doch die Idylle war überschattet von der Angst:

"Ein großes und schweres Kapitel wäre über die Angst zu schreiben, von welcher das Kind nachts, und nicht nur nachts, angepackt wird. ... So abgrundtief könnte unsere Angst bei keinem Schiffsuntergang und keiner Geistererscheinung mehr werden, wie jene, mit der wir, sechs-, acht- oder zehnjährig, den Geräuschen der Dunkelheit nachhorchten, wenn wir einschlafen sollten. ... Wir sind nichts, ... nur die Angst ist mit uns - wir, allein mit der Angst.
Sehr gräßlich war auch das Erschrecken über das eigene Spiegelbild ... Wer ist das? Das bin doch Ich! Aber wer bin dann ich? Wo bin dann ich? Dann bin ich ja zwei ... Als Kind, allein mit seinem Spiegelbild in einem halbdunklen Zimmer gelassen, hat man alle Verzweiflungen des Irrenhauses kennengelernt." (Klaus Mann 1932, S.16f.)

Woher kam diese Angst? Sie hat - wie schon gesagt - vermutlich ihren Ursprung in seiner frühesten Kindheit. Hinzu kam die Krankheit seiner Mutter Katia, die ab 1911 - Klaus war noch nicht fünf - lungenkrank war und sich mehrmals monatelang in Sanatorien in der Schweiz aufhalten mußte. (Thomas Mann hat die Atmosphäre dieser Sanatorien in seinem Zauberberg eingefangen.) Klaus und seine Geschwister wurden in diesen Zeiten von Kinderfräulein versorgt, die in seiner Erinnerung schreckliche Tyranninnen waren.

Der Vater Thomas war zwar anwesend, kümmerte sich jedoch nicht um die Kinder. Klaus berichtete:

"Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muß man sich still verhalten, weil der Vater arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: Es ist die Stunde der Siesta. ... Es ist quälend, bei ihm in Ungnade zu sein, obwohl oder gerade weil sein Mißmut sich nicht in lauten Worten zu äußern pflegt. Sein Schweigen ist eindrucksvoller als eine Strafpredigt. Übrigens ist nicht immer leicht vorauszusehen, was er bemerken und wie er reagieren wird. ... Die väterliche Autorität ist unberechenbar." (KM 1952, S.29)

Für Klaus bedeutete dies eine existentielle Bedrohung. Der Tod war nahe, die Mutter konnte sterben. Der Vater war unnahbar, furchterregend. Die Angst wuchs, ohne daß er Trost erhielt.

Große Angst empfand er auch, als er mit neun Jahren an einer schweren Blinddarmerkrankung fast gestorben wäre, und nur durch das beherzte Eingreifen der Mutter Katia - sie rieb in entgegen ärztlichen Rates mit Kölnisch Wasser ein - gerettet wurde.

Zwei Ereignisse kamen hinzu, die Klaus zwar nicht direkt erlebte, aber dennoch auf ihn über die Vermittlung der Gefühle der Eltern einen starken Eindruck gemacht haben müssen, und seine kindlichen Todesängste verstärkten:

Katias ältester Bruder Erik, der Liebling ihrer Mutter und wahrscheinlich auch ihr Lieblingsbruder, starb 1909 unter mysteriösen Umständen. Er war als junger Mann ein Tunichtgut gewesen, hatte enorme Spielschulden gemacht und war vom Vater Pringsheim deshalb nach Argentinien "verbannt" worden. Allerdings hatte der Vater ihn nicht unversorgt gelassen, sondern ihm eine Farm gekauft, die er bewirtschaften konnte. Und dann geschah das Unheil: Erik heiratete eine Frau, die ihn, vermutlich aus Habgier, ermorden ließ! Die Pringsheims versuchten vergeblich, sie vor Gericht zu bringen, der Fall wurde nie aufgeklärt.

Katia, die erst seit vier Jahren verheiratet war, muß vom grausigen Tod ihres Lieblingsbruders tief betroffen gewesen sein. Es ist denkbar, daß ihre Krankheit sozusagen ihre Art der Trauer um ihren Bruder war - ihr Sohn Klaus fühlte mit ihr, auch wenn er die Details nicht kannte.

Und auch der Vater Thomas hatte den Tod eines Geschwisters zu betrauern: Carla nahm sich 1910 das Leben. Sie war als Schauspielerin gescheitert, hatte versucht, durch eine Ehe ins bürgerliche Leben zurückzufinden, doch ihr Verlobter erfuhr von ihrem Vorleben und stellte sie zur Rede. Da nahm sie das Gift, das sie schon seit Jahren bei sich trug. Heinrich, der Bruder, stand ihr sehr nahe und hatte auch ihre Schauspielerei unterstützt. In mehreren seiner frühen Novellen und Romane ließ er Frauen, die Carla gleichen, durch Freitod enden. Auch ihren tatsächlichen Selbstmord setzte Heinrich in Literatur um: Er schrieb ein Theaterstück Schauspielerin, in dem bis in kleinste Details die Verstrickungen Carlas und ihr Tod auf der Bühne nachgespielt werden - er selbst und Bruder Thomas saßen in der Münchner Aufführung im Parkett.

Obwohl das Kind Klaus diese tragischen Zusammenhänge der beiden Todesfälle nicht kannte, haben sie zweifellos über die Emotionen der Eltern auf ihn gewirkt, denn er hat sie später in seine Spiele mit den Geschwistern eingebaut, wie er in seinen Autobiographien berichtet. Figuren, die Erik ähnelten und auch diesen Namen trugen, kamen häufig in seinen Werken vor - als strahlende Helden mit großer erotischer Anziehungskraft.

Es mag für ihn von besonderer Bedeutung gewesen sein, daß beide, Erik und Carla, aber auch Heinrich, der große Rivale des Vaters Thomas, sozusagen die Repräsentanten des "Unordentlichen", des Nicht-Bürgerlichen, also die Gegenbilder der eigenen Eltern darstellten. Als Klaus in späteren Jahren ähnliche Tendenzen zeigte, waren die Befürchtungen beider Eltern sofort von diesen negativen Vorbildern geprägt. Ihre Sorge, daß Klaus diesen Weg einschlagen könnte, hat ohne Frage entscheidend dazu beigetragen, daß es auch so kam.

Doch noch etwas anderes kam als Belastung für den heranwachsenden Klaus hinzu: Die Verliebtheit seines Vaters in ihn. Für ihn war es ein Geheimnis, das er nur erfühlen konnte, über das er allerdings auch Hinweise aus den Werken seines Vaters bekam, die er nun zu lesen begann, insbesondere aus dem Tod in Venedig. Was Thomas Mann beim Anblick des Körpers seines Sohnes empfand, konnte Klaus nur ahnen. Wir aber können es heute in Thomas Manns Tagebüchern von 1918-1921 genau nachlesen.

Die Tagebücher wurden erst 1975 - zwanzig Jahre nach seinem Tod - geöffnet. Es war damals nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für die Familie (4) eine Sensation, seine intimen Äußerungen zu lesen. Hier einige Passagen, in denen er von seinem zwölf- bis vierzehnjährigen Sohn spricht:

"Es zeigte sich, daß Eissi (Klaus) ... phantastisch entblößt in seinem Bette lag ... Wie wird das Leben des Jungen sich gestalten? Jemand wie ich 'sollte' selbstverständlich keine Kinder in die Welt setzen." (20.9.1918)
"Entzücken an Eissi, der im Bade erschreckend hübsch. Finde es sehr natürlich, daß ich mich in meinen Sohn verliebe. ... Eissi lag mit nacktem braunen Oberkörper lesend im Bett, was mich verwirrte." (25.7.1920)
"Las gestern Abend eine weltschmerzlich zerrissene Novelle Eissi's und kritisierte sie an seinem Bett unter Zärtlichkeiten, über die er sich, glaube ich, freut." (27.7.1920)
"Ich hörte Lärm im Zimmer der Jungen und überraschte Eissi völlig nackt vor Golo's Bett Unsinn machend. Starker Eindruck von seinem vormännlichen, glänzenden Körper, Erschütterung ..." (17.10.1920)

Versetzen wir uns in Klaus. Wie mag er diese Gefühle des Vaters wahrgenommen haben? Freute er sich wirklich über das Gestreichelt-Werden, wie der Vater meinte? Wahrscheinlich erschreckte ihn das Verhalten des Vaters. Ein Sohn, der auf seinen Vater eine erotische Anziehung ausübt, aber nicht frei und unbeschwert darauf reagieren darf, weil der Vater von ihm Heimlichkeit verlangt, muß verwirrt werden.

Klaus reagierte mit Aufsässigkeit. Er provozierte die Eltern, indem er sein Tagebuch herumliegen ließ. Thomas Mann notierte dazu:

"Gestern abend erschütterndes Vorkommnis mit K. (Katia). Sie hatte Klaus' Tagebuch offen liegend gefunden und gelesen. ... Es zeugt von so ungesunder Kälte, Undankbarkeit, Lieblosigkeit, Verlogenheit abgesehen von den literarisch-radikalistischen Flegeleien und Albernheiten, daß das arme Mutterherzchen tief enttäuscht und verwundet war. ... Den tobenden Vater werde ich nie spielen. Der Junge kann nichts für seine Natur, die ein Produkt ist. Auch glaube ich kaum, daß ihm jeder Fond fehlt. ... (Katia hatte eine) Unterredung mit Eissi, die zu ihrer Zufriedenheit verlaufen. Auch er hat bitterlich geweint. ... Er war beim Abendessen noch ernst, dann, da ich mir nichts merken ließ, unbefangen." (5.3.1920)

Warum sprach er nicht selbst mit dem Sohn? Und warum tat er so, als wisse er nichts von dem Vorfall? Warum war der Vertrauensbruch der Mutter, die das Tagebuch gelesen hatte, kein Thema? Thomas Mann bezeichnete Klaus als kalt und verlogen, doch daß auch er sich "verlogen" und "kalt" verhielt, bemerkte er nicht. Vor allem fühlte er keine Verantwortung dafür, daß er selbst mit seinen auf den Sohn gerichteten, mühsam zurückgehaltenen Gefühlen Klaus in schwere Bedrängnis gebracht hatte.

Klaus vertraute dem Tagebuch seine Verzweiflung an. Ob die Eltern diese Passage des Vierzehnjährigen gelesen hatten?

"Wenn Du existierst, Gott, warum bestrafst Du mich nicht für meine Lästerung? ... Ich weiß schon, woran es liegt: Du zerschmetterst mich nicht, weil Du mich nicht hörst; Du hörst mich nicht, weil Du nicht existierst. ... Und wieder wird es Nacht. Wie öde ... Ich muß, muß, muß berühmt werden ..." (Tagebuch 1954, S.94f.)

Klingt es nicht so, als ob Klaus den eigenen Vater anruft, der für ihn ja in der Tat wie Gott-Vater war und ihn nicht anhörte? Wollte er berühmt werden, um dem Vater seine Existenzberechtigung zu beweisen?

Schon früh zeigte sich, daß Klaus selbst homoerotische Gefühle empfand. Er verliebte sich in Schulkameraden. In seiner Novelle Vorfrühling setzte er das Erlebnis in Dichtung um. Auch hier also eine Wiederholung der Schülererlebnisse des Vaters, die wir aus Tonio Kröger kennen. Wie der Vater liebte Klaus, ohne zurückgeliebt zu werden. In seiner Novelle allerdings drehte er die Situation um: Der erwachsene Ich-Erzähler quält auf geradezu sadistische Weise den leidenden Knaben, der so alt ist wie Klaus, als er die Novelle schrieb.

"(Raimund) spürte wohl, wie groß dieses Knaben Sehnsucht nach ihm war. Aber er hob nur die Schultern und sagte: 'Wieso? Warum weinen Sie?' ... Dann wandte sich Elmar zum Gehen. Seine schmale Gestalt ward geschüttelt vom Weinen. ... Raimund wandte ihm den Rücken zu. ... Als des Knaben müde und schleppende Schritte auf dem Gang verhallt waren, spürte er, daß Tränen langsam über sein Gesicht rannen." (Klaus Mann 1932, S.94)

Man kann diese Passage fast wie ein Modell für Klaus' spätere unglückliche Beziehungen zu Männern lesen, in denen er in beiden Rollen - der des Elmar und der des Raimund - litt.

Wie nicht anders zu erwarten, erlebte Klaus eine äußerst konfliktreiche Pubertät. Mit Erika und einer Gruppe Gleichaltriger, der "Herzogspark-Bande", machten sie das Villenviertel, in dem die Manns lebten, unsicher. Sie stahlen in Geschäften, um sich ihren Mut zu beweisen, terrorisierten Unbekannte mit falschen Telefonanrufen, feierten wilde Feste - bis es den Eltern zu bunt wurde und beide in ein Landerziehungsheim geschickt wurden.

Doch auch hier waren Erika und Klaus nicht zu bändigen. In der freigeistigen Atmosphäre der Odenwaldschule scheint ihre Oppositionswut eher noch zugenommen zu haben. Die seltsam erotisch aufgeladenen Beziehungenunter den jungen Menschen hat Klaus später in sein Theaterstück Anja und Esther eingehen lassen. Es wurde zu einem öffentlichen Skandal, nicht nur wegen des Inhalts, sondern vor allem, weil Klaus und Erika zusammen mit Pamela Wedekind, der Tochter des Schriftstellers Frank Wedekind und mit dem damals allerdings noch wenig bekannten Gustaf Gründgens in dem Stück selbst auftraten. Als "Dichterkinder" zogen sie 1925 mit dem Stück durch die Lande.

Thomas Mann reagierte in einem Brief an Erika herablassend kritisch:

"... wenn man das Stück auch nicht unbedingt hätte aufführen müssen, so ist es als erster Anfang doch keineswegs so schlecht, wie die meisten Leute tun." (6.11.1925)

Klaus hatte es also nicht geschafft, den Vater zu beeindrucken. Unter dem mühsamen Lob war die Geringschätzung kaum verborgen. Noch weniger gelang ihm das mit seinem Erstlingsroman Der fromme Tanz, dem ersten Homosexuellen-Roman der Literaturgeschichte, der sein Coming-Out bedeutete. Klaus hatte schon seit er in Berlin lebte, also seit seinem 18. Lebensjahr in Homosexuellen-Kreisen gelebt, doch nun tat er es aller Welt kund.

Der fromme Tanz ist eine Mischung aus schwülstig-mystischer Ekstase, nüchternen, geradezu hartherzigen Beschreibungen der Schicksale von Menschen am Abgrund, aus Verzweiflung und Entsetzen über die eigenen Unzulänglichkeiten und aus voyeurhaften Schilderungen grotesker Exzesse auf Festen und in Bordellen. Es war also keine Offenbarung der Lust und der Freude an der körperlichen Begegnung mit Männern, sondern eine Orgie des Leids, die Männer erdulden, wenn sie Männer lieben. Klaus ist es nie gelungen, wirkliche Erfüllung in einer Liebesbeziehung zu einem Mann zu finden. Es gab zwar mehrere Männer in seinem Leben, die er leidenschaftlich liebte, doch entweder erwiderten sie seine Liebe nicht oder aber es war nur ein kurzes Feuer, das alsbald wieder erlosch.

Dennoch betrachtete Klaus seine Homosexualität nicht als Schwäche oder Schande, sondern wie ein Adelszeichen. Schon im Frommen Tanz schrieb er:

"Andreas gab sich dieser Liebe ganz hin, die er nicht als Verirrung empfand. Ihm kam es nicht in den Sinn, sie vor sich zu leugnen, sie zu bekämpfen als 'Entartung' oder als 'Krankheit'. Diese Worte ... kamen aus anderer Welt."

Diese Worte kamen - aus der Welt des Vaters. Denn Thomas Mann schrieb in einem Essay in direkter Antwort auf Klaus' Roman 1925 über die Homoerotik:

"Sie ist 'freie' Liebe im Sinne der Unfruchtbarkeit, Aussichtslosigkeit, Konsequenz- und Verantwortungslosigkeit. ... Sie ist 'l'art pour l'art', was ästhetisch recht stolz und frei sein mag, doch ohne Zweifel unmoralisch ist."

Die "ästhetisierend-sterile Knabenliebe" ließ er gelten, nicht aber die "orgiastische Befreiung" der ausgelebten Homosexualität, zu der sich Klaus bekannt hatte. Diese verwarf er mit stark moralisierenden Worten.

Auch in einem literarischen Werk brachte Thomas Mann seinen Unmut über Klaus zum Ausdruck. In seiner Novelle Unordnung und frühes Leid von 1926 soll Bert ein Porträt von Klaus sein:

"...mein armer Bert, der nichts weiß und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswursten zu spielen, obgleich er gewiß nicht einmal dazu Talent hat."

Klaus konterte seinerseits 1926 mit einer Erzählung Kindernovelle, in der der bereits verstorbene Vater - in allem ein Porträt Thomas Manns - als Maske an der Wand hängt. Seiner Witwe, die Katia gleicht, dichtet Klaus ein Liebesverhältnis mit Till, einem jungen Mann an, der mit ihm, Klaus, aber auch mit Katias Brüdern oder noch peinlicher: mit einem Freund des Hauses Ähnlichkeit hat. In anderen Novellen, die Klaus in diesen Jahren schrieb, sind die Herausforderungen und Angriffe gegen den Vater noch krasser.

Doch alle Versuche, den Vater zu provozieren, gingen ins Leere. An Thomas Mann schien alles abzuperlen. Und das, obwohl sich Thomas Mann selbst noch einmal eine platonische Verliebtheit in einen jungen Mann in Klaus' Alter, der auch noch Klaus (Heuser) hieß, erlaubte und sogar seine Kinder Erika und Klaus darüber in spaßendem Ton informierte! Hätte Klaus allerdings gewußt, was sein Vater seinem Tagebuch anvertraute, nämlich wie sehr er an der Unerfülltheit seiner Sehnsüchte litt - Klaus wäre vielleicht von seiner Obsession, den Vater zu provozieren, befreit gewesen. Klaus wollte vom Vater ein Bekenntnis, das Eingeständnis seines homoerotischen, auf ihn, Klaus, gerichteten Begehrens - doch Thomas verweigerte es ihm konsequent.

Nach seinem Lebenshöhepunkt zwischen 1925 und 1929, der ihm erste literarische Erfolge, eine Weltreise mit Erika und das exzessive Leben mit Freunden in aller Welt bescherte, ging es mit Klaus sehr schnell abwärts. Todeswünsche verfolgten ihn, er begann Drogen zu nehmen. Erika war war stärker, "männlicher" als er, er verließ sich auf sie als seine Stütze, wohl wissend, daß dies eine gefährliche Bindung war, auf die kein Verlaß sein konnte. In seinem Roman Treffpunkt im Unendlichen von 1932 läßt er dann auch die der Schwester nachgezeichnete Freundin des Ich-Erzählers nach einem gemeinsamen Marihuana-Horror-Trip an Meningitis sterben.

1932 erschoß sich sein und Erikas bester Freund Ricki Hallgarten am Tag vor der gemeinsam geplanten Reise nach Persien. Im seiner Autobiographie Der Wendepunkt schildert er eindringlich die existentielle Erschütterung, die dieser Tod für ihn bedeutete. Seine abgrundtiefe Angst konnte er nur noch mit Drogen ertragen. Auch in der Liebe gab es für ihn nur noch Enttäuschungen: Auf einer Finnlandreise mit Erika im Sommer nach Rickis Tod verliebte er sich in einen jungen Mann, der aber seine Liebe nicht erwiderte. In Flucht nach Norden können wir seine Qualen miterleben.

Und dann begann die Zeit der Emigration. Wie ihr Onkel Heinrich waren Klaus und Erika sehr viel klarsichtiger als der Vater Thomas Mann, der sich erst spät zur antifaschistischen Emigrantenbewegung bekannte und nur durch Zufall gleich 1933 Deutschland verließ. Thomas und Katia waren auf einer Vortragsreise in der Schweiz, als Hitler 1933 an die Macht kam. Sie kehrten nicht nach München zurück, sondern blieben in der Schweiz, später in Frankreich und ab 1938 in den USA.

Klaus Mann lebte vorwiegend in Paris und Amsterdam, emigrierte dann aber auch in die USA. Zunächst war er außerordentlich engagiert als Herausgeber der literarischen Emigranten-Zeitschrift Die Sammlung, mit der er jedoch nach wenigen Jahren scheiterte. Er schrieb mehrere große Romane über die Emigration, von denen Mephisto von 1936 der bekannteste ist. Es ist die Geschichte eines Opportunisten, Hendrik Höfgen, der Zügen Gustaf Gründgens trägt. Daß dieses Werk von Klaus Mann auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch Betreiben Gustaf Gründgens' nicht veröffentlicht wurde, ist einer der größten politisch-literarischen Skandale der Nachkriegszeit. Sie traf Klaus Mann tief und trug möglicherweise auch zu seinem frühen Ende bei.

Trotz seiner enormen Aktivität in den ersten Jahren der Emigration war Klaus gepeinigt von Todeswünschen:

"Depression. Dringlichster Sterbe-Wunsch. ... Abends: vor Trauer geschrien. Dann Weinkrampf von gewiß einer halben Stunde - wie ich es noch nie gekannt habe. Mielein (Mutter Katia) - Arzt mußte kommen." (22.11.1935)
"Wieder geschrien vor Traurigkeit. Wie soll ich es schaffen? Lieber Gott, wie SOLL ich es schaffen? Du süßer Tod. ----" (25.11.1935)
"Ertrage das Leben mit äusserster Anstrengung. Ungeheure Todessehnsucht. Das tiefe Bedürfnis nach FRIEDEN. O Vater, ists möglich, so nimm diesen Kelch von mir! Doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst." (2.10.1937)

Der Vater Thomas, den er in dieser verzweifelten Anrufung Gottes vielleicht auch wieder unbewußt meinte, eilte von einem Erfolg zum nächsten. Nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1929 gelang es ihm auch in der Emigration - anders als vielen deutschen Schriftstellern - seinen Ruhm auszuweiten. Mithilfe einflußreicher Freunde konnte er in den USA Fuß fassen, zunächst in Princeton, dann in Pacific Palisades in Kalifornien, und seinen großen Josef-Roman beenden.

Klaus verfiel dagegen in immer größere Verzweiflung. Zwar waren er und Erika weiterhin engagiert in ihrem Kampf gegen Hitler-Deutschland. Sie hielten vielbeachtete Vorträge, waren Berichterstatter im Spanien-Krieg. Auch versuchte Klaus es noch einmal mit einer Zeitschrift Decision, die er allerdings auch wieder nach kurzer Zeit aufgeben mußte. In seinen Tagebüchern aus dieser Zeit ist Hoffungslosigkeit und Todessehnsucht das alles überschattende Thema.

Ein letzter Strohhalm war für Klaus der Eintritt in die US-Armee, der ihm unter Verheimlichung seiner Homosexualität und seiner Drogenabhängigkeit gelang. Als Propaganda-Beauftragter machte er den Italienfeldzug mit und war nach Kriegsende einer der ersten GIs in seiner alten Heimatstadt München, von wo aus er erschütternde Briefe an die Eltern schickte.

Doch kaum war die turbulente und ereignisreiche Zeit des Krieges vorbei, breitete sich wieder die Leere aus. Golo Mann fand sehr einfühlsame Worte für die Situation seines Bruders kurz vor dessen Tod:

"'Antifaschismus', die Hoffnung auf den Untergang des Tyrannen, ist für Klaus zwölf Jahre lang ein Lebenselement gewesen. Nun war der Tyrann tot, aber nicht gut die Welt, die er hinterlassen hatte. Moralische Energie, so lange gegen ihn gerichtet, ging ins Leere, fand sich nicht mehr." (Golo Mann in KM-Briefe Bd. 2)

Von der Schwester Erika fühlte er sich verlassen. Sie hatte sich nach Thomas Manns schwerer Operation 1946 ganz dem Vater zugewandt, redigierte seine Werke und begleitete ihn auf seinen "Ehrenreisen". Golo meinte, daß es ein "nicht uncharakteristischer Zufall" war, daß sich Klaus das Leben nahm, während die Eltern mit Erika sich auf einer dieser "Ehrenreisen" befanden.

Zwei Jahre zuvor hatte Thomas Mann sein düsterstes Werk, den Doktor Faustus beendet, in dem er seine eigenen Todesbilder und -erfahrungen literarisch verarbeitete, allerdings nicht als eigenes Erleben, sondern aus der Distanziertheit eines Chronisten, des Serenus Zeitblom, der über die tragischen, zum Tod führenden Verstrickungen seines Freundes Adrian Leverkühn, berichtet. Von den Suiziden der Schwestern Carla und Lula - im Roman die Schwestern Rodde - wird berichtet. Das grausame Sterben des kleinen Echo, dem er die Züge seiner geliebten Enkelsohnes Frido, des Sohnes von Michael, wird von Serenus-Thomas minutiös geschildert. Und alles ist eingebettet in die Geschichte des "verfluchten" Künstlers Adrian, der sich dem Teufel verschrieben hatte, um berühmt zu werden.

Ist es nicht, als ob Thomas Mann im Alter noch einmal die Themen aufgriff, die mit dem Tod seines Vaters, des Senators und seinem testamentarischen Fluch zusammenhingen? War aber gerade dies auch wie eine unbewußte Aufforderung an den Sohn Klaus, den Tod zu suchen?

Weder Thomas noch Klaus sahen diese Zusammenhänge. Für Klaus blieb der Vater der undurchschaubare, unnahbare Meister, der ihn in den Tod rief - so jedenfalls in der literarischen Umsetzung in einem seiner letzten Werke, im Schauspiel Der siebente Engel. Ähnlich wie in der Kindernovelle von 1926 stellte er sich als Kind im Kreis seiner Geschwister und der Mutter dar - der Vater ist auch hier bereits gestorben. Wieder tritt Till, ein junger Mann auf, der ihm selbst gleicht, wieder verliebt sich die Witwe-Mutter in ihn. Doch anders als in der Kindernovelle ist Till diesmal, ohne es zu wissen, ein Bote des "Meisters" im Jenseits, der als Geist zu seiner Frau und seinen Kindern spricht. Im Auftrag des jenseitigen Vaters wird Till am Ende von den Kindern getötet, die ihn über eine Klippe ins Meer stürzen. Der siebente Engel ist das Kind, das die Mutter-Frau von Till empfing, wobei auch dies vom Meister im Jenseits, mit dem Till nun im Tode vereint ist, gewollt war.

In unglaublich vielschichtiger Verdichtung hat Klaus mit dieser Geschichte die psychodynamischen Hintergründe seiner Todessehnsucht zum Ausdruck gebracht - so wie es dem Vater in dessen Faustus gelang. Bei Klaus gibt es allerdings keinen distanzierten Beobachter des Geschehens, vielmehr bilden Geburt und Tod, Kindheit und Erwachsensein, Liebe und Haß, Leben und Sterben, Diesseits und Jenseits, Verzweiflung und Hoffnung - aber eben auch die erdichtete Figur und ihr Autor eine unentwirrbare Einheit.

Thomas Mann reagierte auf den Freitod des Sohnes, wie wir gesehen haben, in ähnlicher Weise wie er Serenus Zeitblom auf den Tod des Freundes Adrian reagieren läßt. Doktor Faustus wurde übrigens zwei Jahre vor Klaus' Tod abgeschlossen. Klaus kannte und schätzte den Roman sehr.

Die Distanz des ironischen Beobachters der Welt und der Menschen, die nicht zuletzt den literarischen Ruhm Thomas Manns begründeten, war für den Sohn tödlich. Für ihn wurde der Vater zu einer Maske, zu einem jenseitigen Geist, der ihn "heimsuchte". Denn Klaus konnte nicht erkennen, daß die Unnahbarkeit des Vaters nicht Ablehnung seiner, des Sohnes, Person war, sondern Abwehr seiner tiefen homoerotischen Liebe für ihn, die er dem Sohn nicht eingestehen konnte wegen der Schuld- und Sühnegefühle, die er aus seiner eigenen Kindheit, verbunden mit dem Tod seines Vaters in sich trug.

Thomas Mann fühlte sich berufen, den Auftrag seines Vaters zu erfüllen: Als großer deutscher Schriftsteller patrizischer Statur hätte er in der Tat das Wohlwollen des Senators gewonnen. Allerdings war der Preis hoch, denn die verdrängten Todeswünsche übertrug er auf zwei seiner Söhne: Auch Michael, der jüngste, starb von eigener Hand in der Silvesternacht 1976/1977 an einer Mischung von Alkohol und Barbituraten. (5)

Katia allerdings, die Frau, die seine "Bejahung" sein sollte und es auch unbeirrt während ihrer fünfzig Jahre währenden Ehe war, überlebte ihn um 26 Jahre. Sie starb 1980 im Alter von 97 Jahren.

Anmerkungen:

(1) Das Haus beherbergt übrigens heute ein sehenswertes Museum zu Ehren von Heinrich und Thomas Mann. zurück zum Text
(2) Vgl. dazu das Kapitel "In einer Familie" in meinem Buch Im Netz der Zauberer. zurück zum Text
(3) Wie aus der Autobiographie von Klaus Pringsheim Jr. erst jetzt bekannt wird, war der Zwillingsbruder Katias homosexuell. Noch vor seiner Übersiedelung nach Japan lebte er von seiner Frau Lala getrennt, die von einem anderen Mann einen Sohn bekam, der aber den Namen Pringsheim trug. Klaus Pringsheim Jr. erfuhr erst im Erwachsenenalter, daß er dieses Kind ist und daß Klaus Pringsheim Sr. nicht sein Vater war. Alle anderen Familienmitglieder, auch Katia und Thomas Mann wußten davon. (Pringsheim 1995) zurück zum Text
(4) 1975 lebten noch Katia Mann, sowie die Kinder Golo, Monika, Elisabeth und Michael. Michael war als Professor der Germanistik damit befaßt, die Tagebücher zu edieren. Freunde berichteten, daß er von den Eintragungen des Vaters über den Abtreibungsversuch während der Schwangerschaft Katias, die dann aber doch zu seiner, Michaels, Geburt führte, äußerst schockiert gewesen sei. Sie vermuten, daß sein Freitod in der Silvesternacht 1976-77, knapp zwei Jahre später, mit diesem Schock in Verbindung stand. zurück zum Text
(5) Michael war als Professor der Germanistik damit befaßt, Thomas Manns Tagebücher zu edieren. Freunde berichteten, daß er von den Eintragungen des Vaters über den Abtreibungsversuch während der Schwangerschaft Katias, die dann aber doch zu seiner, Michaels, Geburt führte, äußerst schockiert gewesen sei. Sie vermuten, daß sein Freitod knapp zwei Jahre später, mit diesem Schock in Verbindung stand. (Krüll S.536ff.)  zurück zum Text

LITERATUR

Krüll, Marianne (1993): Im Netz der Zauberer - Eine andere Geschichte der Familie Mann. Frankfurt/M. (Fischer-Taschenbuch). (Zuerst Zürich 1991 Arche-Verlag).
Mann, Golo (1986): Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt/M. (S. Fischer).
Mann, Heinrich (1958-1988): Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Düsseldorf (claassen).
Mann, Heinrich (1965-1973): Gesammelte Werke. Berlin und Weimar (Aufbau-Verlag).
Mann, Heinrich (1951-1962): Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Berlin (Aufbau-Verlag).
Mann, Katia (1974): Meine ungeschriebenen Memoiren. Hg. von Elisabeth Plessen und Michael Mann. Frankfurt/M (S. Fischer).
Mann, Klaus (1925): Der fromme Tanz. Das Abenteuerbuch einer Jugend. Berlin (Bruno Gmünder 19829.
Mann, Klaus (1932): Kind dieser Zeit. Autobiographie. Reinbek (Rowohlt 1967).
Mann, Klaus (1952): Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. München (Ellermann, edition spangenberg 1981).
Mann, Klaus (1975): Briefe und Antworten. Klaus-Mann-Werkausgabe in Einzelbänden. 2 Bände. Hg. von Martin Gregor-Dellin. München (edition spangenberg).
Mann, Klaus (1989-1991): Tagebücher. 6 Bände. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. München (ed. spangenberg).
Mann, Thomas (1960-1974): Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt/M. (S. Fischer).
Mann, Thomas (1961-1965): Briefe 1889-1955 und Nachlese. Hg. von Erika Mann. 3 Bände. Frankfurt/M. (S. Fischer).
Mann, Thomas (1979-1995): Tagebücher. Hg. von Peter de Mendelssohn (Bände 1918-1921 bis 1940-1943), hg. von Inge Jens (Bände 1944-1946 bis 1949-1955) Frankfurt/M. (S. Fischer).
Mann, Thomas, Heinrich Mann (1984): Thomas Mann - Heinrich Mann (1900-1949) Briefwechsel. Frankfurt/M. (S. Fischer).
Mendelssohn, Peter de (1975): Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Erster Teil 1875-1918. Frankfurt /M. (S. Fischer).
Pringsheim, Klaus Jr., Victor Boesen (1995): Wer zum Teufel sind Sie? Bonn (Weidle)

Weitere Angaben zur verwendeten Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis in Marianne Krüll: Im Netz der Zauberer.

 
 
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